Wann haften Sozialleistungsträger für fehlerhafte Beratung? Der BGH hat die besonderen Beratungs- und Betreuungspflichten von Ämtern im Sozialrecht herausgestellt und die Voraussetzung für Ersatzansprüche wegen Amtspflichtverletzungen bestimmt. Im Streitfall hatte das Sozialamt bei der Beantragung von Sozialhilfe nicht auf die Möglichkeit einer Erwerbsminderungsrente hingewiesen.
Darum geht es
Der Kläger, der schwerbehindert ist, nimmt den beklagten Landkreis als Sozialhilfeträger unter dem Gesichtspunkt der Amtspflichtverletzung (§ 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 34 Satz 1 GG) wegen fehlerhafter Beratung auf Schadensersatz in Anspruch. Der 1984 geborene Kläger besuchte vom 01.08.1991 bis zum 31.07.2002 eine Förderschule für geistig Behinderte.
Anschließend nahm er vom 02.09.2002 bis zum 27.09.2004 in einer Werkstatt für behinderte Menschen an berufsbildenden Maßnahmen teil. Da es ihm in der Folgezeit nicht möglich war, ein seinen Lebensbedarf deckendes Erwerbseinkommen zu erzielen, beantragte seine zur Betreuerin bestellte Mutter im Dezember 2004 bei dem Landratsamt laufende Leistungen der Grundsicherung nach dem Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (gültig bis zum 31.12.2004) beziehungsweise nach §§ 41 ff SGB XII (gültig ab dem 01.01.2005).
Nachdem die Mutter des Klägers im Jahr 2011 von einer (neuen) Sachbearbeiterin des Landratsamts des Beklagten erstmals darüber informiert worden war, dass der Kläger einen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung wegen voller Erwerbsminderung habe, bewilligte die Deutsche Rentenversicherung Bund auf entsprechenden Antrag des Klägers eine monatliche Erwerbsunfähigkeitsrente mit Wirkung ab 01.08.2011. In dem Rentenbescheid wurde unter anderem festgestellt, dass die Anspruchsvoraussetzungen bereits seit dem 10.11.2004 erfüllt seien.
Der Kläger verlangt Schadensersatz in Höhe der Differenz zwischen der vom 10.11.2004 bis 31.07.2011 gewährten Grundsicherung und der ihm in diesem Zeitraum bei rechtzeitiger Antragstellung zustehenden Rente wegen voller Erwerbsminderung. Er hat vorgetragen, der geltend gemachte Differenzschaden wäre nicht eingetreten, wenn die Bediensteten des Beklagten ihn beziehungsweise seine Betreuerin bereits im Jahr 2004 auf die Möglichkeit des Rentenbezugs hingewiesen hätte.
Das Landgericht hat der auf Zahlung von 50.322,61 € nebst Zinsen gerichteten Klage stattgegeben. Auf die hiergegen gerichtete Berufung des Beklagten hat das Oberlandesgericht unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils die Klage abgewiesen.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Der BGH hat auf die Revision des Klägers das Urteil des Oberlandesgerichts aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat des Berufungsgerichts zurückverwiesen.
Soweit das Berufungsgericht eine Amtspflichtverletzung des Beklagten im Zusammenhang mit den ihm nach § 14 Satz 1 SGB I obliegenden besonderen sozialrechtlichen Beratungs- und Betreuungspflichten verneint hat, hält dies einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
Unter den gegebenen Umständen war anlässlich der Beantragung von Leistungen der Grundsicherung zumindest ein Hinweis vonseiten des Beklagten notwendig, dass auch ein Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente in Betracht kam und deshalb eine Beratung durch den zuständigen Rentenversicherungsträger geboten war.
Im Sozialrecht bestehen für die Sozialleistungsträger besondere Beratungs- und Betreuungspflichten. Eine umfassende Beratung des Versicherten ist die Grundlage für das Funktionieren des immer komplizierter werdenden sozialen Leistungssystems.
Im Vordergrund steht dabei nicht mehr nur die Beantwortung von Fragen oder Bitten um Beratung, sondern die verständnisvolle Förderung des Versicherten, das heißt die aufmerksame Prüfung durch den Sachbearbeiter, ob Anlass besteht, den Versicherten auch von Amts wegen auf Gestaltungsmöglichkeiten oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit seinem Anliegen verbinden; denn schon gezielte Fragen setzen Sachkunde voraus, über die der Versicherte oft nicht verfügt.
Die Kompliziertheit des Sozialrechts liegt gerade in der Verzahnung seiner Sicherungsformen bei den verschiedenen versicherten Risiken, aber auch in der Verknüpfung mit anderen Sicherungssystemen. Die Beratungspflicht ist deshalb nicht auf die Normen beschränkt, die der betreffende Sozialleistungsträger anzuwenden hat.
Ist anlässlich eines Kontakts des Bürgers mit einem anderen Sozialleistungsträger für diesen ein zwingender rentenversicherungsrechtlicher Beratungsbedarf eindeutig erkennbar, so besteht für den aktuell angegangenen Leistungsträger auch ohne ein entsprechendes Beratungsbegehren zumindest die Pflicht, dem Bürger nahezulegen, sich (auch) von dem Rentenversicherungsträger beraten zu lassen (vgl. § 2 Abs. 2 Halbsatz 2, § 17 Abs. 1 SGB I).
Auf der Grundlage der von den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen bestand im vorliegenden Fall ein dringender Beratungsbedarf in einer wichtigen rentenversicherungsrechtlichen Frage. Dies war für die Grundsicherungsbehörde beziehungsweise das Sozialamt des Beklagten ohne weitere Ermittlungen eindeutig erkennbar.
Der zu 100 % schwerbehinderte Kläger hatte nach dem Besuch einer Förderschule für geistig Behinderte berufsbildende Maßnahmen erfolgreich absolviert und war anschließend in einer Werkstatt für behinderte Menschen tätig (versicherungspflichtige Beschäftigung). Er war jedoch auf Grund seiner Behinderung außerstande, seinen notwendigen Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln (Einkommen, Vermögen) zu bestreiten.
In einer solchen Situation musste ein mit Fragen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung befasster Sachbearbeiter des Sozialamts mit Blick auf die Verzahnung und Verknüpfung der Sozialleistungssysteme in Erwägung ziehen, dass bereits vor Erreichen der Regelaltersgrenze ein gesetzlicher Rentenanspruch wegen Erwerbsunfähigkeit bestehen konnte. Es war deshalb ein Hinweis auf die Notwendigkeit einer Beratung durch den zuständigen Rentenversicherungsträger geboten.
Das Berufungsgericht hat dahinstehen lassen, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe für den geltend gemachten Zeitraum ein Rentenanspruch tatsächlich begründet war, so dass insoweit ergänzende Feststellungen zu treffen sind.
BGH, Urt. v. 02.08.2018 - III ZR 466/16
Quelle: BGH, Pressemitteilung v. 02.08.2018