Entscheiden Krankenkassen über einen Leistungsantrag nicht innerhalb der geltenden Frist, gilt die Leistung nach § 13 Absatz 3a Satz 6 SGB V als genehmigt. Das Bundessozialgericht hat seine Rechtsprechung zu dieser „Genehmigungsfiktion“ geändert. Demnach ergibt sich hieraus kein eigenständiger Anspruch auf Sachleistung, sondern nur das vorläufige Recht, die Leistung selbst zu beschaffen.
Darum geht es
Der bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger beantragte zur Behandlung seiner Gangstörung die Versorgung mit dem Arzneimittel Fampyra. Dieses Medikament ist nur zur Behandlung einer Gangstörung bei Multipler Sklerose zugelassen; der Kläger leidet jedoch an einer anderen Krankheit.
Die Beklagte lehnte den Antrag erst nach Ablauf der maßgeblichen Frist ab. Der Kläger hat sich das Medikament nicht selbst beschafft, sondern verlangt die zukünftige Versorgung im Wege der Sachleistung auf "Kassenrezept".
Die Vorinstanzen haben - gestützt auf die bisherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Genehmigungsfiktion - die Beklagte verurteilt, den Kläger entsprechend ärztlicher Verordnung mit einem Arzneimittel zu versorgen.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Das Bundessozialgericht hat das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben, weil sich allein aus der Genehmigungsfiktion kein Sachleistungsanspruch ergibt, und die Sache an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Es bleibt nur ein möglicher Anspruch nach den vom Bundessozialgericht entwickelten Grundsätzen zum Off-Label-Use. Dazu hat das Landessozialgericht - nach seiner Rechtsauffassung folgerichtig - bisher keine Feststellungen getroffen.
Stellen Versicherte bei ihrer Krankenkasse einen Antrag auf Leistungen, muss die Krankenkasse hierüber innerhalb kurzer Fristen entscheiden. Versäumt sie diese Fristen, gilt die Leistung als genehmigt (§ 13 Absatz 3a Satz 6 SGB V).
Unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung hat das Bundessozialgericht entschieden, dass die Genehmigungsfiktion keinen eigenständigen Anspruch auf die beantragte Sachleistung begründet.
Sie vermittelt dem Versicherten nur eine vorläufige Rechtsposition. Diese erlaubt es ihm, sich die Leistung selbst zu beschaffen. Das bewirkt die vom Gesetzgeber beabsichtigte Verfahrensbeschleunigung und sanktioniert verspätete Entscheidungen der Krankenkasse.
Sie muss die Kosten der selbstbeschafften Leistung nämlich auch dann erstatten, wenn nach allgemeinen Grundsätzen der gesetzlichen Krankenversicherung kein Rechtsanspruch auf die Leistung besteht. Dies gilt allerdings nur dann, wenn der Versicherte im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung „gutgläubig“ war.
Gutgläubig war er dann, wenn er weder Kenntnis noch grob fahrlässige Unkenntnis vom Nichtbestehen des Anspruchs hatte. Die eingetretene Genehmigungsfiktion ist kein Verwaltungsakt und schließt das Verwaltungsverfahren nicht ab.
Die Krankenkasse ist deshalb weiterhin berechtigt und verpflichtet, über den Leistungsantrag zu entscheiden. Die durch die Genehmigungsfiktion eröffnete Möglichkeit der Selbstbeschaffung endet, wenn über den materiell-rechtlichen Leistungsanspruch bindend entschieden worden ist oder sich der Antrag anderweitig erledigt hat.
Die bestandskräftige Entscheidung über den Leistungsantrag vermittelt dem Versicherten positive Kenntnis darüber, ob er die beantragte Leistung beanspruchen kann. Während eines laufenden Widerspruchs- oder Gerichtsverfahrens bleibt das Recht, sich die Leistung selbst zu beschaffen, erhalten, solange der Versicherte gutgläubig ist.
BSG, Urt. v. 26.05.2020 - B 1 KR 9/18 R
Quelle: BSG, Pressemitteilung v. 28.05.2020