Wenn Familienangehörige in einer Bedarfsgemeinschaft leben, kann bei der Ermittlung der Bedürftigkeit für die Gewährung existenzsichernder Leistungen unabhängig vom Bestehen eines Unterhaltsanspruchs das Einkommen und Vermögen eines anderen Familienangehörigen berücksichtigt werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden und auch die insoweit bestehende Altersgrenze bestätigt.
Darum geht es
Der Beschwerdeführer lebte mit seinem Vater zusammen, der eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bezog. Der Träger der Grundsicherungsleistung bewilligte dem Beschwerdeführer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch in verringerter Höhe. Dies begründete er damit, dass der Beschwerdeführer mit seinem Vater in einer Bedarfsgemeinschaft lebe, weshalb nur 80% der Regelleistung anzusetzen sei und die Rente seines Vaters zumindest teilweise bei der Berechnung des Anspruchs des Beschwerdeführers bedarfsmindernd berücksichtigt werden müsse.
Das Sozialgericht wies die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage des Beschwerdeführers und seines Vaters ab; Berufung und Revision waren erfolglos. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer vornehmlich eine Verletzung seines Anspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht begründet. Der verfassungsrechtlich garantierte Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich auf die unbedingt erforderlichen Mittel zur Sicherung der physischen Existenz und eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Dabei hat der Gesetzgeber einen Entscheidungsspielraum bei der wertenden Einschätzung des notwendigen Bedarfs.
Bei der Ermittlung der Bedürftigkeit kann daher grundsätzlich auch das Einkommen und Vermögen von Personen einbezogen werden, von denen ein gegenseitiges Einstehen erwartet werden kann. Eine Anrechnung ist auch dann nicht ausgeschlossen, wenn zivilrechtlich kein oder nur ein geringerer Unterhaltsanspruch besteht. Maßgebend sind nicht möglicherweise bestehende Rechtsansprüche, sondern die faktischen wirtschaftlichen Verhältnisse der Hilfebedürftigen, also das tatsächliche Wirtschaften „aus einem Topf“.
Die Entscheidung des Bundessozialgerichts und die Regelungen zu den Grundsicherungsleistungen in einer Zwei-Personen-Bedarfsgemeinschaft erwachsener Kinder mit einem Elternteil genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
Der Gesamtbetrag der Leistungen, die für die Existenzsicherung des Beschwerdeführers anerkannt wurden, unterschreitet das zu gewährleistende menschenwürdige Existenzminimum nicht.
Zwar sind dem Beschwerdeführer nur Leistungen in verminderter Höhe bewilligt worden. Dies folgt jedoch aus der teilweisen Anrechnung der Erwerbsunfähigkeitsrente des Vaters, weil der Gesetzgeber mit den angegriffenen Regelungen unterstellt, dass sein Bedarf durch entsprechende Zuwendungen des Vaters gedeckt ist. Der Vater verfügte jedenfalls über hinreichende Mittel, um zur Existenzsicherung seines Sohnes beizutragen.
Die der Existenzsicherung des Beschwerdeführers dienenden Leistungen lassen sich in ihrer Gesamthöhe nachvollziehbar und sachlich differenziert tragfähig begründen. Es ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, zur Gewährleistung einer menschenwürdigen Existenz anerkannte Sozialleistungen in Orientierung an der Bedürftigkeit der Betroffenen pauschal um Einsparungen zu kürzen, die im familiären häuslichen Zusammenleben typisch sind. Insbesondere ist hinreichend plausibel, dass jedenfalls in einem Haushalt zusammenlebende Familienangehörige umfassend „aus einem Topf“ wirtschaften.
Die Annahme, das Hinzutreten eines weiteren Erwachsenen zu einer Bedarfsgemeinschaft führe zu einer regelbedarfsrelevanten Einsparung von 20 %, kann sich zumindest für die Zwei-Personen-Bedarfsgemeinschaft auf eine ausreichende empirische Grundlage stützen; sie bewegt sich innerhalb des Entscheidungsspielraums des Gesetzgebers. Nicht zu entscheiden war im vorliegenden Verfahren, ob und gegebenenfalls ab welcher Anzahl hinzutretender Personen eine Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums nicht mehr gewährleistet ist, wenn für jede dieser weiteren Personen eine um 20 % geringere Regelleistung berechnet wird.
Es ist verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, die Leistungen in einer Bedarfsgemeinschaft aus einem Elternteil und einem erwachsenen Kind ungleich zu verteilen. Es erscheint hinreichend plausibel, wenn der Gesetzgeber davon ausgeht, dass Eltern in häuslicher Gemeinschaft auch mit einem erwachsenen Kind regelmäßig den überwiegenden Teil der Kosten tragen und auf Abrechnungen verzichten.
Mit der Anrechnung des elterlichen Einkommens wird der grundgesetzlich garantierte gesetzliche Anspruch des Beschwerdeführers auf Existenzsicherung nicht beseitigt, sondern nur die Höhe des individuellen Leistungsanspruchs gegen den Träger der Grundsicherung in Anknüpfung an die tatsächlichen Umstände beschränkt. Der Gesetzgeber geht plausibel davon aus, dass die Existenzsicherung nur in dem Umfang erforderlich ist, in dem sie nicht durch Mitglieder einer häuslichen und familiären Gemeinschaft erfolgt.
Der Gesetzgeber darf sich von der Annahme leiten lassen, dass eine verwandtschaftliche Bindung in der Kernfamilie, also zwischen Eltern und Kindern, grundsätzlich so eng ist, dass ein gegenseitiges Einstehen erwartet werden kann und regelmäßig „aus einem Topf“ gewirtschaftet wird. Weigern sich Eltern aber ernsthaft, für ihre nicht unterhaltsberechtigten Kinder einzustehen, fehlt es schon an einem gemeinsamen Haushalt und damit auch an der Voraussetzung einer Bedarfsgemeinschaft. Eine Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen scheidet dann aus; ein Auszug aus der elterlichen Wohnung muss dann ohne nachteilige Folgen für den Grundsicherungsanspruch möglich sein.
Die unterschiedliche Ausgestaltung der Leistungen zur Existenzsicherung für unter und über 25-jährige Kinder in Bedarfsgemeinschaft mit ihren Eltern oder einem Elternteil sowie zwischen im elterlichen Haushalt lebenden volljährigen Kindern in den Leistungssystemen des Zweiten Buches und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ist mit den Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes in Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.
Der Gesetzgeber bezieht erwachsene Kinder bis zum 25. Lebensjahr in die Bedarfsgemeinschaft ein, weil er damit das legitime Ziel verfolgt, Ansprüche auf Sozialleistungen in Schonung der Solidargemeinschaft an der konkreten Bedürftigkeit der leistungsberechtigten Personen auszurichten. Dafür ist die Orientierung am Zusammenleben und am Lebensalter geeignet, denn die Annahme, dass zusammenlebende Eltern und Kinder über das 18. Lebensjahr hinaus „aus einem Topf“ wirtschaften, ist plausibel.
Die Ungleichbehandlung zwischen über und unter 25-jährigen Kindern im elterlichen Haushalt ist auch zumutbar. Kommt es zu einer ernstlichen Verweigerung der Unterstützung, scheiden Kinder nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung bereits vor Vollendung des 25. Lebensjahrs aus der Bedarfsgemeinschaft mit der Folge aus, dass ihnen die volle Regelleistung zusteht und eine Einkommensanrechnung nicht stattfindet; sie dürfen dann ohne Anspruchsverluste ausziehen.
Die Unterschiede zwischen den Leistungssystemen genügen, um ihre unterschiedlichen Anrechnungsregeln sachlich zu rechtfertigen. Das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch erfasst Hilfebedürftige, die entweder vorübergehend oder dauerhaft voll erwerbsgemindert sind. Deren Möglichkeiten, sich selbst zu unterhalten, sind demnach deutlich eingeschränkt. Demgegenüber zielt das Zweite Buch Sozialgesetzbuch auf Bedürftige, die ihren Lebensunterhalt grundsätzlich selbst sichern könnten. Die Leistungen zur Existenzsicherung werden vorübergehend gewährt und sie werden durch Leistungen zur Vermittlung in Arbeit ergänzt.
BVerfG, Beschl. v. 27.07.2016 - 1 BvR 371/11
Quelle: BVerfG, Pressemitteilung v. 07.09.2016