Gerichte verletzen das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, wenn sie trotz gewichtiger Anhaltspunkte nicht aufklären, ob einem Betroffenen im Falle der Abschiebung Folter oder unmenschliche Haftbedingungen drohen. Behörden und Gerichte müssen sich vor einer Rückführung in den Zielstaat über die dortigen Verhältnisse informieren. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden.
Darum geht es
Der in Deutschland geborene und aufgewachsene Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger. Er wurde durch das Kammergericht Berlin im Jahr 2015 unter anderem wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt, weil er sich salafistischen Kreisen angeschlossen und in Syrien der terroristischen Vereinigung Junud al-Sham erhebliche Geld- und Sachleistungen überlassen hatte.
Die Ausländerbehörde wies den Beschwerdeführer im Juni 2016 aus der Bundesrepublik aus, drohte die Abschiebung in die Türkei an. Den Eilantrag des Beschwerdeführers lehnte das Verwaltungsgericht ab; die Beschwerde zum Verwaltungsgerichtshof blieb erfolglos. Zusätzlich stellte der Beschwerdeführer im August 2017 einen Asylantrag, der als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde.
Hiergegen begehrte der Beschwerdeführer Eilrechtsschutz und trug vor, gegen ihn sei in der Türkei ein Strafverfahren wegen Unterstützung des islamistischen Terrorismus anhängig, und es drohe ihm Folter. Er legte zur Begründung seines Antrags ein Schreiben von amnesty international vor, wonach die deutsche Sektion Ende Juli 2017 von dem Vater eines in der Türkei als Terrorverdächtiger inhaftierten türkischen Staatsangehörigen Hinweise darauf erhalten habe, dass sein Sohn seit einiger Zeit zusammen mit den Mitgefangenen schwer geschlagen und gefoltert werde; jede ärztliche Versorgung werde den Gefangenen verweigert, die in Zellen voller menschlicher Fäkalien untergebracht seien.
Das Verwaltungsgericht lehnte den Eilantrag mit Beschluss vom 21. September 2017 ab. Wie der Verwaltungsgerichtshof im ausweisungsrechtlichen Verfahren zu Recht festgestellt habe, drohe lediglich Angehörigen der kurdischen PKK oder der Gülen-Bewegung Folter. An Anhaltspunkten für eine beachtliche Gefahr von Folter oder menschenrechtswidriger Behandlung im Falle des Beschwerdeführers fehle es jedoch.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Entscheidung vom 21. September 2017 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG.
Das Gebot effektiven Rechtsschutzes des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verlangt nicht nur, dass jeder potenziell rechtsverletzende Akt der Exekutive in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der gerichtlichen Prüfung unterstellt werden kann; vielmehr müssen die Gerichte den betroffenen Rechten auch tatsächliche Wirksamkeit verschaffen.
Das Maß dessen, was wirkungsvoller Rechtsschutz ist, bestimmt sich auch nach dem sachlichen Gehalt des als verletzt behaupteten Rechts, hier der Menschenwürde sowie des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Verbindung mit der Gewährleistung des Art. 3 EMRK im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Die verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung haben dem hohen Wert dieser Rechte Rechnung zu tragen. In Fällen, in denen die Gefahr von Folter oder unmenschlichen Haftbedingungen in Rede steht, kommt der verfahrensrechtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung) verfassungsrechtliches Gewicht zu.
Liegen ernsthafte Anhaltspunkte für eine Foltergefahr vor, ist es verfassungsrechtlich und konventionsrechtlich geboten, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor einer Rückführung in den Zielstaat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen, die die Gefahr einer Art. 3 EMRK verletzenden Behandlung wirksam ausschließen.
Diesen Maßgaben wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht. Mit der Begründung, es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Beschwerdeführer im Falle seiner Abschiebung in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter oder menschenrechtswidrige Haftbedingungen drohten, da nur kurdische Aktivisten und Anhänger der Gülen-Bewegung, nicht aber Unterstützer des islamistischen Terrorismus mit menschenrechtswidriger Behandlung rechnen müssten, verfehlt das Verwaltungsgericht die verfassungsrechtlichen Vorgaben.
Es bestand im Hinblick auf das vom Beschwerdeführer überreichte Schreiben von amnesty international und insbesondere vor dem Hintergrund der als gerichtsbekannt einzustufenden allgemeinen Erkenntnisse zur politischen Situation in der Türkei von Verfassungs wegen Anlass zu weiterer Sachaufklärung oder zur Einholung von Zusicherungen der türkischen Behörden zur Behandlung des Beschwerdeführers.
Denn es gab ernsthafte Anhaltspunkte für das Bestehen einer Foltergefahr auch im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Unterstützung des islamistischen Terrorismus und damit auch in Bezug auf den Beschwerdeführer. Diese Anhaltspunkte hätten einer Überprüfung bedurft. Auch in Anbetracht der obergerichtlichen Rechtsprechung zu den Haftbedingungen in der Türkei konnte das Verwaltungsgericht nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass dem Beschwerdeführer nach der Abschiebung keine menschenrechtswidrige Behandlung drohte.
Im Hinblick auf den festgestellten Verstoß gegen die aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgende Aufklärungspflicht bedarf die weitere Frage, ob Personen, die islamistischen terroristischen Organisationen zuzurechnen sind, in der Türkei generell mit Folter zu rechnen haben, im vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren keiner Entscheidung.
BVerfG, Beschl. v. 18.12.2017 - 2 BvR 2259/17
Quelle: BVerfG, Pressemitteilung v. 09.01.2018