Der EuGH hat eine Grundsatzfrage im Asylrecht entschieden. Demnach sind die Mitgliedsstaaten nach europäischen Vorgaben nicht verpflichtet, Personen, die sich in ihr Hoheitsgebiet begeben möchten, um dort Asyl zu beantragen, ein humanitäres Visum zu erteilen. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob und wann in diplomatischen Vertretungen eine Einreise durchgesetzt werden kann.
Darum geht es
Am 12.10.2016 stellte ein syrisches Ehepaar, das mit seinen drei kleinen Kindern in Aleppo (Syrien) lebt, bei der belgischen Botschaft in Beirut (Libanon) Anträge auf humanitäre Visa, bevor sie am folgenden Tag nach Syrien zurückkehrten.
Mit ihren Anträgen begehrten sie auf der Grundlage des EU-Visakodex die Erteilung von Visa mit räumlich beschränkter Gültigkeit, die es ihnen ermöglichen sollten, die belagerte Stadt Aleppo zu verlassen, um in Belgien Asyl zu beantragen. Einer der Ehepartner gab u. a. an, er sei von einer bewaffneten Gruppe entführt, geschlagen und gefoltert worden, bevor er schließlich gegen Lösegeld freigelassen worden sei.
Die Familie hebt insbesondere die Verschlechterung der Sicherheitslage in Syrien im Allgemeinen und in Aleppo im Besonderen sowie den Umstand hervor, dass sie aufgrund ihres christlich-orthodoxen Glaubens der Gefahr einer Verfolgung wegen ihrer religiösen Überzeugung ausgesetzt seien.
Am 18.10.2016 lehnte das Ausländeramt (Belgien) die Anträge ab. Es vertritt die Auffassung, dass die syrische Familie, da sie ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit erhalten wolle, um in Belgien Asyl zu beantragen, offensichtlich beabsichtigt habe, sich länger als 90 Tage in Belgien aufzuhalten, was im Widerspruch zum EU-Visakodex stehe. Zudem liefe die Gestattung der Erteilung eines Einreisevisums für diese Familie, damit sie in Belgien einen Asylantrag stellen könne, darauf hinaus, es ihr zu ermöglichen, bei einer diplomatischen Vertretung Asyl zu beantragen.
Die syrische Familie ficht die Ablehnungsentscheidung vor dem Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) an. Sie vertritt die Auffassung, dass die Charta der Grundrechte der EU und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) den Mitgliedstaaten die positive Verpflichtung auferlegten, das Asylrecht zu gewährleisten.
Die Gewährung internationalen Schutzes sei das einzige Mittel, um die Gefahr eines Verstoßes gegen das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung abzuwenden. Unter diesen Umständen hat der Conseil du Contentieux des Étrangers im Eilverfahren beschlossen, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.
Er bringt u. a. vor, nach dem Visakodex sei ein Visum namentlich dann zu erteilen, wenn der betreffende Mitgliedstaat dies aufgrund internationaler Verpflichtungen für erforderlich „hält“, und wirft die Frage nach dem Umfang des den Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang eingeräumten Beurteilungsspielraums auf.
Wesentliche Entscheidungsgründe
In seinem Urteil weist der EuGH zunächst darauf hin, dass der Visakodex auf der Grundlage einer Bestimmung des EG-Vertrags erlassen wurde, wonach der Rat Maßnahmen über Visa für geplante Aufenthalte von höchstens drei Monaten beschließt.
Folglich werden mit dem Visakodex die Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen festgelegt.
Die syrische Familie stellte ihre Anträge auf Visa aus humanitären Gründen aber in der Absicht, in Belgien Asyl und somit einen nicht auf 90 Tage beschränkten Aufenthaltstitel zu beantragen. Demzufolge fallen diese Anträge, obgleich sie formal auf der Grundlage des Visakodex gestellt wurden, nicht in dessen Anwendungsbereich.
Der Gerichtshof weist ferner darauf hin, dass der Unionsgesetzgeber bisher keinen Rechtsakt erlassen hat, der die Voraussetzungen betrifft, unter denen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörigen aus humanitären Gründen Visa oder Aufenthaltstitel für einen langfristigen Aufenthalt erteilen. Die Anträge der syrischen Familie fallen daher allein unter das nationale Recht.
Da die in Rede stehende Situation somit nicht vom Unionsrecht geregelt ist, sind die Vorschriften der Charta nicht auf sie anwendbar.
Der EuGH stellt außerdem klar, dass die Situation der syrischen Familie nicht dadurch gekennzeichnet ist, dass Zweifel an der von ihr bekundeten Absicht bestehen, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen, sondern durch einen Antrag, der einen anderen Gegenstand hat als den eines Visums für einen kurzfristigen Aufenthalt.
Könnten Drittstaatsangehörige Visumanträge stellen, um die Gewährung internationalen Schutzes im Mitgliedstaat ihrer Wahl zu erreichen, würde dies die allgemeine Systematik des Systems beeinträchtigen, das die Union zur Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats geschaffen hat.
Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass für einen Antrag auf ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit, der von einem Drittstaatsangehörigen aus humanitären Gründen auf der Grundlage des Visakodex bei der Vertretung des Zielmitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines Drittstaats in der Absicht gestellt wird, sogleich nach seiner Ankunft in diesem Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen und sich infolgedessen in einem Zeitraum von 180 Tagen länger als 90 Tage dort aufzuhalten, nicht der Visakodex gilt, sondern beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts allein das nationale Recht.
EuGH, Urt. v. 07.03.2017 - C-638/16 PPU
Quelle: EuGH, Pressemitteilung v. 07.03.2017