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Aussetzung des europäischen Haftbefehls wegen Gesundheitsgefahr

Eine offensichtlich bestehende Gefahr einer Gesundheitsschädigung der gesuchten Person kann zur Aussetzung des europäischen Haftbefehls führen. Die vollstreckende Behörde ist verpflichtet, sich bei der ausstellenden Behörde darüber zu informieren, unter welchen Bedingungen die gesuchte Person der Strafverfolgung unterzogen oder inhaftiert werden soll. Das hat der EuGH klargestellt.

Darum geht es

Gegen E. D. L., der sich in Italien aufhält, wurde am 09.09.2019 vom Gemeindegericht Zadar (Kroatien) zum Zwecke der Strafverfolgung in Kroatien ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt. 

Der für die Vollstreckung dieses Haftbefehls zuständige Berufungsgerichtshof Mailand stellte aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens eine Psychose, wegen deren die Fortsetzung einer medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlung erforderlich sei, sowie eine erhebliche Suizidgefahr im Falle der Unterbringung in einer Haftanstalt fest. 

Der Berufungsgerichtshof ging davon aus, dass die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls die Behandlung von E. D. L. unterbrechen und zu einer Verschlechterung von dessen allgemeinem Gesundheitszustand mit möglicherweise außergewöhnlich schweren Folgen führen würde. Es würde nachweislich sogar Suizidgefahr bestehen. 

Der Berufungsgerichtshof stellte jedoch fest, dass solche gesundheitlichen Gründe nach den italienischen Vorschriften, mit denen der Rahmenbeschluss des Rates über den Europäischen Haftbefehl umgesetzt worden sei, keinen Grund für die Ablehnung der Übergabe darstellten. 

Der Berufungsgerichtshof holte deshalb die Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichtshofs über die Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschriften ein. 

Der italienische Verfassungsgerichtshof nahm an, dass die Fragen, über die er zu befinden habe, nicht nur die Vereinbarkeit dieser Vorschriften mit der italienischen Verfassung beträfen, sondern auch die Auslegung des Unionsrechts, das mit ihnen umgesetzt werde. 

Der Verfassungsgerichtshof hat deshalb den EuGH angerufen. Da eine Ablehnung der Übergabe bei einer chronischen Krankheit von potenziell unbeschränkter Dauer nicht vorgesehen ist, möchte der italienische Verfassungsgerichtshof wissen, wie die Gefahr einer schweren Schädigung der Gesundheit einer solchen Person, deren Gesundheitszustand sich im Falle einer Übergabe erheblich verschlechtern kann, abgewandt werden kann. 

Der italienische Verfassungsgerichtshof möchte insbesondere wissen, ob die vollstreckende Justizbehörde die ausstellende Justizbehörde um Informationen ersuchen muss, die es ermöglichen, das Bestehen einer solchen Gefahr auszuschließen, und ob sie die Übergabe, wenn sie nicht in angemessener Frist die Zusicherungen erhält, die erforderlich sind, um die Gefahr auszuschließen, ablehnen muss. 

Wesentliche Entscheidungsgründe

In seinem Urteil hat der EuGH (Große Kammer) darauf hingewiesen, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im Unionsrecht fundamentale Bedeutung haben und dass Letzterer den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen darstellt. 

Die vollstreckenden Justizbehörden können die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls deshalb nur aus den Gründen verweigern, die im Rahmenbeschluss genannt sind. 

Und die Ablehnung der Vollstreckung ist als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen. Es gilt nämlich die Vermutung, dass die Möglichkeiten, die in den Mitgliedstaaten zur Behandlung u. a. von schweren, chronischen und möglicherweise irreversiblen Krankheiten zur Verfügung stehen, angemessen sind. 

Bestehen jedoch anhand objektiver Umstände ernsthafte Gründe für die Annahme, dass die Übergabe einer gesuchten Person offensichtlich eine Gefährdung für deren Gesundheit darstellt, kann die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe ausnahmsweise aussetzen. 

Bei der Ausübung des in Bezug auf die Beurteilung einer solchen Gefährdung bestehenden Ermessens ist das in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union enthaltene Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu berücksichtigen. 

Eine Behandlung fällt aber nur dann unter dieses Verbot, wenn sie eine gewisse Schwere hat, die über das dem Freiheitsentzug unvermeidlich innewohnende Maß des Leidens hinausgeht. 

Die vollstreckende Justizbehörde ist daher, wenn anhand der objektiven Informationen, über die sie verfügt, ernsthafte und nachgewiesene Gründe für die Annahme bestehen, dass für die gesuchte Person, die schwer krank ist, im Falle der Übergabe die reale Gefahr einer erheblichen Verkürzung ihrer Lebenserwartung oder einer raschen, ernsten und unumkehrbaren Verschlechterung ihres Gesundheitszustands besteht, verpflichtet, die Übergabe auszusetzen. 

In diesem Fall muss sie die ausstellende Justizbehörde, um eine wirksame justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen zu gewährleisten, ersuchen, sie umfassend darüber zu unterrichten, unter welchen Bedingungen die gesuchte Person der Strafverfolgung unterzogen oder inhaftiert werden soll. 

Kann die genannte Gefahr durch die Zusicherungen der ausstellenden Justizbehörde abgewandt werden, ist der Europäische Haftbefehl zu vollstrecken. 

Es ist jedoch möglich, dass die vollstreckende Justizbehörde unter außergewöhnlichen Umständen aufgrund der von der ausstellenden Justizbehörde gemachten Angaben zu dem Schluss gelangt, dass es ernsthafte und nachgewiesene Gründe für die Annahme gibt, dass für die gesuchte Person die Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung besteht und dass diese Gefahr nicht in angemessener Frist abgewandt werden kann. 

In diesem Fall hat die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen. Kann die genannte Gefahr hingegen in angemessener Frist abgewandt werden, ist mit der ausstellenden Justizbehörde ein neues Übergabedatum zu vereinbaren. 

EuGH, Urt. v. 18.04.2023 - C-699/21

Quelle: EuGH, Pressemitteilung v. 18.04.2023

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