Es ist nicht geboten, ein knapp dreijähriges Kind, dessen getrennt lebende, jedoch gemeinsam sorgeberechtigte Eltern unterschiedlichen Religionsgemeinschaften angehören, bereits jetzt endgültig in eine Religionsgemeinschaft zu integrieren. Vielmehr sind die Eltern aufgerufen, religiöse Toleranz gegenüber dem jeweils anderen Bekenntnis zu üben. Das hat das OLG Karlsruhe entschieden.
Sachverhalt
Die Eltern und das Kind sind deutsche Staatsangehörige. Die Eltern hatten bis Juli 2014 unverheiratet zusammengelebt. Seitdem lebt das Kind bei der Mutter, die wieder verheiratet ist und in ihrer neuen Familie den evangelischen Glauben praktiziert. Der Vater ist türkischer Abstammung, wurde in Deutschland geboren und besitzt seit 2006 die deutsche Staatsangehörigkeit. Er neigt dem Islam zu, zieht das türkische Essen dem deutschen vor und lehnt den Verzehr von Schweinefleisch ab. Er ist beschnitten und wünscht sich dies auch für sein Kind, ohne es durchsetzen zu wollen. Noch vor der Geburt haben die Eltern durch die Abgabe entsprechender Sorgeerklärungen die gemeinsame elterliche Sorge gewählt.
Die Mutter hat ursprünglich die elterliche Sorge für das Kind begehrt, weil die Eltern über dessen religiöse und kulturelle Entwicklung uneinig seien. Das Kind solle im christlichen Glauben erzogen und getauft werden und in der Schule am evangelischen Religionsunterricht teilnehmen. Das Kind werde während des Umgangs mit dem Vater von diesem gegen den christlichen Glauben eingestellt und zugunsten des muslimischen Glaubens beeinflusst. Das Familiengericht hat der Mutter das Recht zur Entscheidung über die Religionszugehörigkeit des Kindes übertragen.
Dagegen richtet sich die Beschwerde des Vaters. Der angegriffene Beschluss verstoße gegen das Gesetz über die religiöse Kindererziehung (RelKErzG) und Art. 14 UN-Kinderrechtskonvention. Eine Entscheidung über die Religionszugehörigkeit des Kindes sei in Anbetracht seines geringen Alters nicht erforderlich. Das OLG hat mit Beschluss vom 22.10.2015 die Vollziehung des angegriffenen Beschlusses des Familiengerichts vorläufig ausgesetzt.
Wesentliche Aussagen der Entscheidung
Die Beschwerde des Vaters ist begründet. Derzeit besteht kein Anlass, aus Gründen des Kindeswohls eine Entscheidung über dessen Religionszugehörigkeit zu treffen. Wenn sich Eltern in einer einzelnen Angelegenheit der elterlichen Sorge, deren Regelung für das Kind von erheblicher Bedeutung ist, nicht einigen können, kann das Familiengericht gem. § 1628 BGB auf Antrag eines Elternteils die Entscheidung einem Elternteil übertragen. Eine auch nur teilweise Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge ist deswegen nicht erforderlich (BGH, Beschl. v. 11.05.2005 – XII ZB 33/04).
Der Antrag der Mutter ist nicht begründet, weil derzeit eine Entscheidung über die religiöse Erziehung des Kindes nicht geboten ist.
Art. 6 Abs. 2 GG gewährleistet das Recht der Eltern auf Erziehung des Kindes auch in weltanschaulich-religiöser Hinsicht. Dieses Recht genießt zusätzlich den Schutz der Religionsfreiheit, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Da die Elternrechte beider Elternteile gleichwertig sind, kann nur das Kindeswohl einen Eingriff in das Elternrecht des jeweils benachteiligten Elternteils rechtfertigen. Eine staatliche Entscheidung, die das Elternrecht beeinträchtigt, aber nicht dem Wohl des Kindes dient, verletzt deshalb Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Können sich die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern über die religiöse Erziehung ihres Kindes nicht einigen, können sie nach § 2 Abs. 3 RelKErzG eine Entscheidung des Familiengerichts beantragen, für die die Zwecke der Erziehung maßgebend sind. Diese erfordern hier nicht eine Entscheidung über die Religionszugehörigkeit des Kindes.
Maßgebend dafür ist im Wesentlichen das geringe Alter des Kindes von knapp drei Jahren. Es ist nicht in der Lage, Fragen des religiösen Bekenntnisses sinnvoll zu verstehen, sondern ahmt lediglich das ihm von seinen Eltern aufgezeigte Verhalten nach, ohne damit etwas Sinnhaftes verknüpfen zu können. Deswegen ist eine Entscheidung über sein religiöses Bekenntnis aus Gründen seiner Erziehung nicht geboten.
Dies entspricht nach Ansicht des OLG auch der gesellschaftlichen Realität in Deutschland. Aus der klassischen Säuglingstaufe wird zunehmend eine Kindertaufe, und zwar teilweise (erst) im erinnerungsfähigen Alter. Hinzu kommt, dass das Kind bei der Mutter und im Umgang mit dem Vater ständig mit unterschiedlichen Praktiken der Religionsausübung konfrontiert wird. Eine Entscheidung über sein religiöses Bekenntnis löst dieses Spannungsverhältnis nicht.
Folgerungen aus der Entscheidung
Das Gericht muss einen Antrag auf Übertragung des Rechts zur Entscheidung über die Religionszugehörigkeit des Kindes zurückweisen und vielmehr an die Eltern appellieren, religiöse Toleranz gegenüber dem jeweils anderen Bekenntnis zu üben. Ein Kind soll zwar mit den unterschiedlichen Bekenntnissen der Eltern leben und sie kennenlernen; in einem noch geringen Alter und bei einem noch fehlenden Verständnis sollte es jedoch nicht in religiöse Unstimmigkeiten verwickelt werden. Wenn es erst knapp drei Jahre alt ist, ist es noch nicht in der Lage, die Verschiedenheit der Religionen wahrzunehmen.
Auch wenn dem Kind die unterschiedlichen religiösen Handlungen seiner Eltern bewusst sein sollten, kann es daraus keine Rückschlüsse ziehen und die einzelnen Religionen nicht bewerten. Bei religiöser Toleranz der Eltern besteht keine Gefahr eines Loyalitätskonflikts des Kindes, sodass es nicht seinem Wohl entspricht, eine Entscheidung über seine Religionszugehörigkeit zu fällen. Vielmehr ist es aus der Sicht des weltanschaulich neutralen Staates geboten, das Kind nicht bereits frühzeitig in eine Religionsgemeinschaft zu integrieren.
Praxishinweis
Die Zuordnung eines Kindes zu einer Religion gestaltet sich häufig schwierig, weil es aufgrund seines geringen Alters die Religionszugehörigkeit nicht eigenständig bedenken kann. Das Gericht muss bei Eltern mit unterschiedlicher Religionszugehörigkeit an ihre Toleranz und ihr Einfühlungsvermögen appellieren, anstatt durch eine Entscheidung in ihre elterliche Sorge einzugreifen. Das Kind wird sich den unterschiedlichen Praktiken der Religionsausübung der Eltern annähern und mit der Zeit damit vertraut werden. Das Gericht muss daher davon ausgehen, dass sich das Kind zu einem späteren Zeitpunkt eigenständig einer Religion zuordnen wird, und darf in diesen Prozess nicht eingreifen. Nur wenn sich ein Elternteil verantwortungslos gegenüber dem Kind als eigenständigem Grundrechtsträger verhält, kommt ein Eingriff in das elterliche Sorgerecht dieses Elternteils in Betracht.
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 03.05.2016 – 20 UF 152/15
Quelle: Ass. jur. Nicole Seier