Dass hilfsbedürftige Menschen, die stationär in einer nicht geschlossenen Einrichtung behandelt werden, sich aber nicht mehr aus eigener Kraft fortbewegen können, nach geltender Rechtslage nicht auch gegen ihren natürlichen Willen ärztlich behandelt werden dürfen, stellt eine verfassungswidrige Schutzlücke dar. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden.
Darum geht es
Die zwischenzeitlich verstorbene Betroffene des Ausgangsverfahrens litt unter einer schizoaffektiven Psychose. Sie stand deswegen seit Ende April 2014 unter Betreuung. Anfang September 2014 wurde die Betroffene kurzzeitig in eine Pflegeeinrichtung aufgenommen. Dort lehnte sie es ab, die zur Behandlung einer Autoimmunerkrankung verordneten Medikamente einzunehmen, verweigerte die Essensaufnahme und äußerte Suizidabsichten. Nachdem die Betroffene mit richterlicher Genehmigung auf eine geschlossene Demenzstation in einem Klinikum verlegt worden war, wurde sie auf der Grundlage mehrerer betreuungsgerichtlicher Beschlüsse im Wege ärztlicher Zwangsmaßnahmen medikamentös behandelt.
Weitere Untersuchungen ergaben, dass die Betroffene auch an Brustkrebs erkrankt war. Zu diesem Zeitpunkt war sie körperlich bereits stark geschwächt, konnte nicht mehr gehen und sich auch nicht selbst mittels eines Rollstuhls fortbewegen. Geistig war sie in der Lage, ihren natürlichen Willen auszudrücken. Auf richterliche Befragung äußerte sie wiederholt, sie wolle sich nicht wegen der Krebserkrankung behandeln lassen. Daraufhin beantragte die Betreuerin, die Unterbringungsgenehmigung für die Betroffene zu verlängern und ärztliche Zwangsmaßnahmen, insbesondere zur Behandlung des Brustkrebses, zu genehmigen.
Das Amtsgericht wies den Antrag auf Unterbringung und Zwangsbehandlung zurück. Die Betroffene könne mangels Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen nicht nach § 1906 Abs. 1 BGB freiheitsentziehend untergebracht und deshalb auch nicht nach § 1906 Abs. 3 BGB zwangsbehandelt werden. Die Beschwerde zum Landgericht blieb erfolglos. Auf die Rechtsbeschwerde der Betreuerin hat der Bundesgerichtshof das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung der Frage vorgelegt, ob § 1906 Abs. 3 BGB in der Fassung vom 18. Februar 2013 mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist (Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG).
Wesentliche Entscheidungsgründe
Die Vorlage ist zulässig. Das Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG dient der Kontrolle konkreter gesetzgeberischer Entscheidungen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz. Schlichtes Unterlassen des Gesetzgebers kann nicht Gegenstand einer konkreten Normenkontrolle sein. Diese Grundsätze stehen allerdings nicht der Vorlage einer bestimmten Norm mit der Begründung entgegen, dass die vom vorlegenden Gericht im Zusammenhang mit der beanstandeten Norm vermisste Ausgestaltung durch eine konkrete verfassungsrechtliche Schutzpflicht geboten ist.
Die Vorlage ist nicht dadurch unzulässig geworden, dass die Betroffene des Ausgangsverfahrens während des Vorlageverfahrens verstorben ist. Die auf Rechtsklärung und Befriedung ausgerichtete Funktion der Normenkontrolle kann es rechtfertigen, ausnahmsweise nach einem Ereignis, das regelmäßig zu dessen Erledigung führt, die vorgelegte Frage gleichwohl zu beantworten, wenn ein hinreichend gewichtiges, grundsätzliches Klärungsbedürfnis fortbesteht. Unter welchen Voraussetzungen das Fortbestehen eines Rechtsschutzinteresses zu bejahen ist, hängt dabei letztlich von den Umständen des Einzelfalls ab.
Es verstößt gegen die staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dass für Betreute, die keinen freien Willen bilden können, eine medizinisch notwendige Behandlung vollständig ausgeschlossen ist, wenn sie ihrem natürlichen Willen widerspricht, sie aber nicht freiheitsentziehend untergebracht werden können, weil die Voraussetzungen dafür nicht vorliegen.
Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gewährt nicht nur ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe. Es stellt zugleich eine objektive Wertentscheidung der Verfassung dar, die staatliche Schutzpflichten begründet. Die Aufstellung und normative Umsetzung eines Schutzkonzepts ist Sache des Gesetzgebers, dem grundsätzlich auch dann ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommt, wenn er dem Grunde nach verpflichtet ist, Maßnahmen zum Schutz eines Rechtsguts zu ergreifen. Das Bundesverfassungsgericht kann die Verletzung einer solchen Schutzpflicht nur feststellen, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben.
Bei Betreuten, die auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, verdichtet sich die allgemeine Schutzpflicht unter engen Voraussetzungen zu einer konkreten Schutzpflicht. Der Gesetzgeber muss ein System der Hilfe und des Schutzes für unter Betreuung stehende Menschen vorsehen, die in diesem Sinne die Erforderlichkeit einer medizinischen Behandlung zur Abwehr oder Bekämpfung erheblicher Erkrankungen nicht erkennen oder nicht danach handeln können.
Ärztliche Untersuchungs- und Heilmaßnahmen müssen dann in gravierenden Fällen als ultima ratio auch unter Überwindung des entgegenstehenden natürlichen Willens solcher Betreuter vorgenommen werden dürfen. Diese Schutzpflicht folgt aus der spezifischen Hilfsbedürftigkeit der unter Betreuung stehenden Menschen. Die staatliche Gemeinschaft darf den hilflosen Menschen nicht einfach sich selbst überlassen.
Ein medizinisches Tätigwerden gegen den natürlichen Willen der Betreuten kollidiert mit deren Selbstbestimmungsrecht und ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Jeder ist nach dem Grundgesetz grundsätzlich frei, über Eingriffe in seine körperliche Integrität und den Umgang mit seiner Gesundheit nach eigenem Gutdünken zu entscheiden. Seine Entscheidung, ob und inwieweit er eine Krankheit diagnostizieren und behandeln lässt, muss er nicht an einem Maßstab objektiver Vernünftigkeit ausrichten. Allerdings hat die staatliche Schutzpflicht bei erheblicher Gesundheitsgefährdung einer zum eigenen Schutz selbst nicht fähigen Person besonderes Gewicht.
Gehen mit der zur Abwehr der Gefahr notwendigen medizinischen Maßnahme keine besonderen Behandlungsrisiken einher und gibt es auch keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass gerade die Behandlungsverweigerung dem ursprünglichen freien Willen der Betreuten entspricht, ist das Ergebnis der Abwägung zwischen den kollidierenden Grundrechten vorgezeichnet. Die staatliche Schutzpflicht gegenüber den Hilflosen überwiegt dann im Verhältnis zu deren Selbstbestimmungsrecht und ihrer körperlichen Integrität und setzt sich durch.
Bei der Umsetzung dieser Schutzpflicht verfügt der Gesetzgeber über einen Spielraum zur näheren Ausgestaltung konkreter Schutzmaßnahmen. Ein Spielraum bleibt dem Gesetzgeber insbesondere bei der Ausgestaltung der materiellen Voraussetzungen einer Heilbehandlung und der Verfahrensregeln zur Sicherung der Selbstbestimmung und körperlichen Integrität der Betroffenen. Weil sich die konkrete Schutzpflicht im Ergebnis gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht und der körperlichen Integrität der Betroffenen durchsetzt, ist der Gesetzgeber im Interesse einer möglichst weitgehenden Rücksichtnahme auf die zurücktretenden Freiheitsrechte der Betroffenen gehalten, inhaltlich anspruchsvolle und hinreichend bestimmt formulierte Voraussetzungen für eine medizinische Zwangsbehandlung zu schaffen.
Dabei hat der Gesetzgeber insbesondere dem Umstand Rechnung zu tragen, dass es nicht um die Sicherstellung medizinischen Schutzes nach Maßstäben objektiver Vernünftigkeit geht. Vielmehr ist der freie Wille der Betreuten zu respektieren. Die verfahrensrechtlichen Regeln müssen sicherstellen, dass eine medizinische Zwangsbehandlung nur vorgenommen werden darf, wenn fest steht, dass tatsächlich kein freier Wille der Betreuten vorhanden ist, dem gleichwohl vorhandenen natürlichen Willen nach Möglichkeit Rechnung getragen wird und dass die materiellen Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung (drohende erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigungen, nicht zu eingriffsintensive Behandlung, hohe Erfolgsaussichten) nachweisbar vorliegen.
Die Pflicht des Staates, den eines freien Willens nicht fähigen Betreuten in hilfloser Lage Schutz zu gewähren und sie unter den genannten Voraussetzungen notfalls einer medizinischen Zwangsbehandlung zu unterziehen, steht auch im Einklang mit der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
Das Betreuungsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs sieht eine ärztliche Zwangsbehandlung nur für solche Betreute vor, die nach § 1906 Abs. 1 BGB geschlossen untergebracht sind (§ 1906 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BGB). Der Bundesgerichtshof hat in dem Vorlagebeschluss in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise dargelegt, dass der Gesetzgeber in § 1906 BGB eine Rechtsgrundlage für medizinische Zwangsbehandlungen nur für geschlossen untergebrachte Betreute schaffen wollte und dies in § 1906 BGB eindeutig zum Ausdruck gebracht hat. Damit ist einer auch verfassungskonformen Auslegung des § 1906 BGB der Weg versperrt, die eine medizinische Zwangsbehandlung auch ohne freiheitsentziehende Unterbringung zuließe.
In stationärer Behandlung befindliche Betreute, die faktisch nicht in der Lage sind, sich räumlich zu entfernen, können nicht nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB freiheitsentziehend untergebracht und deshalb auch nicht nach § 1906 Abs. 3 BGB zwangsbehandelt werden. Damit wird solchen Betreuten, selbst wenn in ihrer Person sämtliche materielle Voraussetzungen einer verfassungsgebotenen Schutzpflicht zweifelsfrei vorlägen und die verfahrensrechtlichen Anforderungen eingehalten werden könnten, nicht der nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gebotene Schutz zuteil. Insoweit genügt die Rechtslage für Betreute nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
Da die Gesetzeslage schon gegen die staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verstößt, können die sich im Zusammenhang mit Art. 3 GG stellenden Fragen hier offen bleiben. Dies gilt auch für die Frage, ob das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzt ist, da dieses hier jedenfalls nicht mehr fordert als die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.
Da kein Verstoß des vorgelegten § 1906 Abs. 3 BGB in seinem derzeitigen Regelungsgehalt gegen das Grundgesetz festgestellt wird, sondern die Nichterfüllung einer konkreten Schutzpflicht des Gesetzgebers für eine bestimmte Personengruppe, genügt es festzustellen, dass dieses Defizit verfassungswidrig ist. Es liegt in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, ob er die Schutzlücke durch Einbeziehung der betroffenen Personengruppe in den § 1906 Abs. 3 BGB unter Verzicht auf eine freiheitsentziehende Unterbringung oder außerhalb dieser Norm gesondert behebt.
Der Gesetzgeber hat die festgestellte Schutzlücke für Betreute, die bei einem drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, und deshalb notfalls auch auf Schutz durch ärztliche Versorgung gegen ihren natürlichen Willen angewiesen sind, unverzüglich zu schließen.
Mit Rücksicht darauf, dass die geltende Rechtslage auch bei drohenden gravierenden oder gar lebensbedrohenden Gesundheitsschäden dieser Personengruppe die Möglichkeit einer Behandlung gänzlich versagt, ist die vorübergehende entsprechende Anwendung des § 1906 Abs. 3 BGB bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung anzuordnen.
BVerfG, Beschl. v. 26.07.2016 - 1 BvL 8/15
Quelle: BVerfG, Pressemitteilung v. 25.08.2016