Welche Haftungsregeln gelten bei Unfällen mit sog. Kreuzungsräumern? Zwar müssen Fußgänger vor dem Losgehen sicherstellen, dass Fahrzeuge bei einem Rückstau auf der Kreuzung warten. Das Landgericht Lübeck hat aber einen Lkw-Fahrer nach einem Unfall mit einer Fußgängerin zu voller Haftung verurteilt. Das schwere Verschulden des Fahrers lasse ein Mitverschulden der Fußgängerin zurücktreten.
Darum geht es
Das Landgericht Lübeck ging nach der Beweisaufnahme im Wesentlichen von folgendem Unfallgeschehen aus:
Die 85jährige Klägerin stand an einer Ampel und wartete darauf, die Straße überqueren zu können. Viele Autos waren unterwegs und auf der Straße kam es zu einem Stau. Der beklagte Lastwagenfahrer schaffte es nicht mehr über die Kreuzung. Er wartete vor dem Fußgängerüberweg.
Die Ampel für Fußgänger sprang auf grün und gleichzeitig löste sich der Stau auf. Die Klägerin ging los, um die Straße zu überqueren, während der Lastwagen anfuhr. Der Lastwagen überrollte die Klägerin und verletzt sie schwer.
Vor dem Landgericht Lübeck hat die Klägerin insbesondere weitergehende Entschädigung verlangt. Die ebenfalls beklagte Versicherung des Lastwagens hat eingewendet, die Frau habe nicht über die Straße gehen dürfen. Sie habe den Lastwagen als sog. „Kreuzungsräumer“ durchfahren lassen müssen.
Beklagtenseits wurde der Klägerin bereits ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 € gezahlt. Die Klägerin verlangt u.a. weiteres Schmerzensgeld, Kostenerstattung für einen Leichtgewichtrollstuhl und die Feststellung künftiger materieller und immaterieller Schadensersatzansprüche.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Die zulässigen Klagen der Fußgängerin waren überwiegend begründet. Das Landgericht Lübeck hat die Beklagten zu weiteren 60.000 € Schmerzensgeld nebst Zinsen verurteilt. Dem Feststellungsantrag hat das Gericht stattgegeben.
Die Kostenerstattung für den Leichtgewichtrollstuhl hat das Landgericht abgelehnt. Insoweit sei die Klägerin nicht aktivlegitimiert. Nach § 116 SGB X sei der Anspruch auf die Krankenversicherung übergegangen.
Die Haftung der Beklagten ergibt sich aus dem vom Gericht festgestellten Unfallgeschehen. Zwar habe die Klägerin gehen dürfen, denn der Lastwagen habe auch als Kreuzungsräumer keine Vorfahrt gehabt.
Die Klägerin hätte sich aber vergewissern müssen, dass der Lastwagen vor dem Fußgängerüberweg stehen bleibt, als sich der Stau auflöste. Trotz grüner Fußgängerampel hätte sie nicht sofort losgehen dürfen.
Die Klägerin muss sich nach dem Gericht aber trotzdem kein Mitverschulden nach §§ 9 StVG, 254 BGB anrechnen lassen. Denn im vorliegenden Fall liege ein so schweres Verschulden des Lastwagenfahrers vor, dass dieser (neben den weiteren Beklagten) allein hafte.
Zulasten der Beklagten sei eine erhöhte Betriebsgefahr auf Grund der eingeschränkten bzw. fehlenden Sicht sowie dem größeren Verletzungspotential durch den Lkw nebst Anhänger zu berücksichtigen.
Zum anderen wiege das Verschulden des beklagten Lkw-Fahrers schwer. Das Gericht geht nach der Beweisaufnahme davon aus, dass der Lkw-Fahrer mit der Zugmaschine unmittelbar vor der Fußgängerfurt zum Stehen kam und die Furt bewusst für mögliche querende Fußgänger frei ließ.
Die wartende Klägerin hätte der beklagte Lkw-Fahrer nach Auffassung des Gerichts wahrnehmen können. Der Fahrer sei aus Unachtsamkeit bei Auflösen des Staus angefahren als die Ampel für die Klägerin bereits grün zeigte.
Landgericht Lübeck, Urt. v. 29.09.2023 - 3 O 336/22
Quelle: Landgericht Lübeck, Pressemitteilung v. 26.10.2023