Ein Mitverschulden des Unfallgegners kann die Vorhersehbarkeit eines Unfalls für den Unfallverursacher ausschließen, wenn das Mitverschulden in einem gänzlich vernunftwidrigen oder außerhalb der Lebenserfahrung liegenden Verhalten besteht. Vor diesem Hintergrund hat das OLG Hamm die Verurteilung eines Unfallverursachers wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung aufgehoben.
Darum geht es
Der 1972 geborene, angeklagte Unfallverursacher aus Bochum befuhr im April 2014 mit seinem Transporter Hyundai im Stadtgebiet von Essen die Halterner Straße aus Gelsenkirchen kommend in Richtung BAB 40. Er beabsichtigte die beampelte Kreuzung Halterner Straße/Ottostraße geradeaus zu überqueren. Von links kommend näherte sich der Unfallgegner aus Bochum mit seinem Pkw Mazda, um die Kreuzung aus seiner Sicht ebenfalls geradeaus zu überqueren. Im Kreuzungsbereich ist die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 50 km/h begrenzt.
Der Angeklagte fuhr mit mindestens 65 km/h in den Kreuzungsbereich ein, der Unfallgegner fuhr ca. 30 km/h. Beide Fahrzeugführer überquerten mit einem geringen zeitlichen Abstand die jeweils für sie geltende Haltelinie. Welcher von ihnen einen Rotlichtverstoß beging, lässt sich nicht mehr klären. Trotz eingeleiteten Bremsmanövers kollidierte der Transporter im Kreuzungsbereich mit der rechten Fahrzeugseite des Mazdas. Neben dem Unfallgegner, der leicht verletzt wurde, erlitt dabei der Beifahrer des Mazdas so schwere Verletzungen, dass er wenige Wochen später verstarb.
Das Landgericht hat nach durchgeführter Beweisaufnahme einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeitsüberschreitung als dem verkehrswidrigen Verhalten des Angeklagten und dem Unfall angenommen und den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Köperverletzung zu einer - in der Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzten - Freiheitsstrafe von sechs Monaten und einem dreimonatigen Fahrverbot verurteilt.
Nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ (im Zweifel für den Angeklagten) ist das Landgericht dabei zugunsten des Angeklagten davon ausgegangen, dass der Unfallgegner bei Rot in die Kreuzung einfuhr und hat dessen verkehrswidriges Mitverschulden strafmildernd berücksichtigt. Es schließe - so das Landgericht - die Vorhersehbarkeit des Unfalls mit seinen Folgen für den Angeklagten nicht aus.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Die Revision des Angeklagten gegen die landgerichtliche Verurteilung war - vorläufig - erfolgreich. Das OLG Hamm hat das landgerichtliche Urteil aufgehoben und die Sache an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Essen zurückverwiesen, die den Fall erneut zu verhandeln und zu entscheiden hat.
Das Landgericht habe den Unfall mit seinen erheblichen Folgen zwar rechtsfehlerfrei dem fahrlässigen Geschwindigkeitsverstoß des Angeklagten zugerechnet. Wäre der Angeklagte beim Passieren der Haltlinie durch den Unfallgegner, das sei der Beginn der kritischen Verkehrssituation, nur 50 km/h gefahren, hätte der Mazda die Unfallstelle bereits passiert, bevor sie der Transporter des Angeklagten erreicht hätte.
Allerdings sei noch nicht geklärt, ob der vom Landgericht zugunsten des Angeklagten unterstellte Rotlichtverstoß des Unfallgegners die Vorhersehbarkeit des Unfalls für den Angeklagten ausgeschlossen habe. Ein Mitverschulden des Unfallgegners könne die Vorhersehbarkeit des Unfalls für den Verursacher ausschließen, wenn es in einem gänzlich vernunftwidrigen oder außerhalb der Lebenserfahrung liegenden Verhalten bestehe. Entgegen der Ansicht des Landgerichts ließen sich Rotlichtverstöße nicht pauschal als „nicht gänzlich vernunftwidrig“ einstufen.
Ein wesentliches Kriterium für ihre Bewertung sei gerade mit Blick auf ihre Folgen die Frage, wie lange die Ampel im Zeitpunkt des Verstoßes schon Rotlicht gezeigt habe. So werde der sog. qualifizierte Rotlichtverstoß (länger als eine Sekunde Rot) bereits durch die Bußgeldkatalogverordnung als grobe Pflichtverletzung bewertet. Im Übrigen wiege ein vorsätzlich begangener Rotlichtverstoß deutlich schwerer als ein fahrlässiger Verstoß.
Aus Sicht des Senats sei zumindest eine vorsätzliche Begehung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes bei der gebotenen wertenden Betrachtung als gänzlich vernunftwidriges Verhalten anzusehen. Im vorliegenden Fall komme es daher darauf an, ob sich nähere Feststellungen zum Rotlichtverstoß des Unfallbeteiligten treffen ließen. Dies sei vom Landgericht in der erneuten Verhandlung zu klären, wobei verbleibende Zweifel nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ zugunsten des Angeklagten zu berücksichtigen seien.
OLG Hamm, Beschl. v. 20.08.2015 - 5 RVs 102/15
Quelle: OLG Hamm, Pressemitteilung v. 27.10.2015