Nach dem Bundesverfassungsgericht muss Betroffenen in einem Bußgeldverfahren zu einer Geschwindigkeitsüberschreitung Zugang zu Informationen gewährt werden, die sich außerhalb der Gerichtsakte befinden (z.B. Rohmessdaten). In standardisierten Messverfahren gelten aber geringere gerichtliche Aufklärungspflichten. Die bloße Behauptung, die Messung sei fehlerhaft, reicht insoweit nicht.
Darum geht es
Der Beschwerdeführer beantragte im Rahmen eines Bußgeldverfahrens wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung Einsicht insbesondere in die gesamte Verfahrensakte, die Lebensakte des Messgerätes, die Bedienungsanleitung des Herstellers, die Rohmessdaten der gegenständlichen Messung und in den Eichschein des verwendeten Messgerätes.
Die Bußgeldstelle gewährte daraufhin Einsicht in die Bußgeldakte, die neben dem Messprotokoll und dem Messergebnis auch den Eichschein des eingesetzten Messgerätes enthielt. Die Bedienungsanleitung zu dem verwendeten Messgerät wurde dem Beschwerdeführer als Datei auf der Internetseite der Bußgeldstelle zugänglich gemacht.
Bezüglich der übrigen angefragten Informationen teilte die Behörde mit, dass diese nicht Bestandteil der Ermittlungsakte seien und nur auf gerichtliche Anordnung vorgelegt würden.
Gegen den anschließend erlassenen Bußgeldbescheid legte der Beschwerdeführer Einspruch ein und wiederholte sein Gesuch. Einen Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung verwarf das Amtsgericht als unzulässig, da der Beschwerdeführer nicht mehr beschwert sei.
Aufgrund des Einspruchs werde nunmehr im gerichtlichen Bußgeldverfahren eine umfassende Prüfung erfolgen, ob der Beschwerdeführer die ihm vorgeworfene Straßenverkehrsordnungswidrigkeit tatsächlich begangen habe.
In der Hauptverhandlung wies das Amtsgericht die Anträge des Beschwerdeführers auf Aussetzung der Hauptverhandlung und gerichtliche Entscheidung gemäß § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 238 Abs. 2 StPO zurück, verurteilte ihn wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 30 km/h zu einer Geldbuße und erteilte ihm ein einmonatiges Fahrverbot.
Der begehrte Zugang zu den Informationen wurde dem Beschwerdeführer zuvor nicht gewährt. Das Amtsgericht führte zur Begründung der Verurteilung aus, bei einer Geschwindigkeitsmessung mit dem zum Einsatz gekommenen Messgerät handele es sich um ein sogenanntes standardisiertes Messverfahren.
Das Gerät sei geeicht gewesen und durch geschultes Personal entsprechend den Vorgaben der Bedienungsanleitung des Herstellers eingesetzt worden. Die Richtigkeit des gemessenen Geschwindigkeitswerts sei damit indiziert.
Konkrete Anhaltspunkte, die geeignet wären, Zweifel an der Funktionstüchtigkeit oder der sachgerechten Handhabung des Messgeräts und deshalb an der Richtigkeit des Messergebnisses zu begründen, seien im Rahmen der Hauptverhandlung nicht entstanden und auch im Vorfeld vom Beschwerdeführer nicht vorgetragen worden.
Das OLG Bamberg verwarf die dagegen eingelegte Rechtsbeschwerde und führte unter anderem aus, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens nicht vorliege, da es allein um eine Frage der gerichtlichen Aufklärungspflicht gehe.
Der Betroffene habe im Verfahren ausreichende prozessuale Möglichkeiten, sich aktiv an der Wahrheitsfindung zu beteiligen. Eine Beiziehung von Beweismitteln oder Unterlagen sei allerdings unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt geboten.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem eine Verletzung seines aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Rechts auf ein faires Verfahren durch die Fachgerichte.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.
Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Recht auf ein faires Verfahren.
Von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden ist, dass die Fachgerichte von einer reduzierten Sachverhaltsaufklärungs- und Darlegungspflicht im Fall eines standardisierten Messverfahrens ausgegangen sind.
Bei diesen Messverfahren sind nach der Rechtsprechung des BGH geringere Anforderungen an die Beweisführung und die Urteilsfeststellungen der Fachgerichte zu stellen. Bestehen keine Bedenken gegen die Richtigkeit des Messergebnisses, genügt deshalb zum Nachweis eines Geschwindigkeitsverstoßes grundsätzlich die Mitteilung des eingesetzten Messverfahrens, der ermittelten Geschwindigkeit nach Abzug der Toleranz und des berücksichtigten Toleranzwertes.
Bei standardisierten Messverfahren sind daher im Regelfall – ohne konkrete Anhaltspunkte für eventuelle Messfehler – die Feststellungs- und Darlegungspflichten des Tatgerichts reduziert. Dem Betroffenen bleibt aber die Möglichkeit eröffnet, das Tatgericht auf Zweifel aufmerksam zu machen und einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen.
Hierfür muss er konkrete Anhaltspunkte für technische Fehlfunktionen des Messgerätes vortragen. Die bloße Behauptung, die Messung sei fehlerhaft, begründet für das Gericht keine Pflicht zur Aufklärung.
Diese Vorgehensweise der Fachgerichte im Ordnungswidrigkeitenverfahren ist nicht zu beanstanden. Hierdurch wird gewährleistet, dass bei massenhaft vorkommenden Verkehrsordnungswidrigkeiten nicht bei jedem einzelnen Bußgeldverfahren anlasslos die technische Richtigkeit einer Messung jeweils neu überprüft werden muss.
Dem geringeren Unrechtsgehalt der Ordnungswidrigkeiten gerade im Bereich von massenhaft vorkommenden Verkehrsverstößen kann durch Vereinfachungen des Verfahrensgangs Rechnung getragen werden.
Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt grundsätzlich auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren das Recht, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden.
Wenn der Betroffene Zugang zu Informationen begehrt, die sich außerhalb der Gerichtsakte befinden, um sich Gewissheit über seiner Entlastung dienende Tatsachen zu verschaffen, ist ihm dieser Zugang grundsätzlich zu gewähren.
Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen unbegrenzt gilt. Gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten ist in Hinblick auf die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten.
Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen, um eine uferlose Ausforschung, erhebliche Verfahrensverzögerungen und Rechtsmissbrauch zu verhindern.
Insofern ist maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen beziehungsweise seines Verteidigers abzustellen. Entscheidend ist, ob dieser eine Information verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf.
Durch die Gewährung eines solchen Informationszugangs wird der Rechtsprechung zu standardisierten Messverfahren nicht die Grundlage entzogen. Zwar steht dem Betroffenen ein Zugangsrecht vom Beginn bis zum Abschluss des Verfahrens zu. Er kann sich mit den Erkenntnissen aus dem Zugang zu weiteren Informationen aber nur erfolgreich verteidigen, wenn er diesen rechtzeitig im Bußgeldverfahren begehrt.
Solange sich aus der Überprüfung der Informationen keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses ergeben, bleiben die Aufklärungs- und Feststellungspflichten der Fachgerichte nach den Grundsätzen des standardisierten Messverfahrens reduziert.
Ermittelt der Betroffene indes konkrete Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses, hat das Gericht zu entscheiden, ob es sich – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Sachverständigen – dennoch von dem Geschwindigkeitsverstoß überzeugen kann. Im Übrigen bleiben die Möglichkeiten zur Ablehnung von Beweisanträgen aus § 77 Abs. 2 OWiG unberührt.
In dem Verfahren des Beschwerdeführers haben die Fachgerichte bereits verkannt, dass aus dem Recht auf ein faires Verfahren für den Beschwerdeführer grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen folgt.
Entgegen der Annahme der Fachgerichte kam es dem Beschwerdeführer insbesondere auch nicht auf die Erweiterung des Aktenbestandes oder der gerichtlichen Aufklärungspflicht an. Vielmehr ging es ihm um die Möglichkeit einer eigenständigen Überprüfung des Messvorgangs, um ggf. bei Anhaltspunkten für die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses die Annahme des standardisierten Messverfahrens erschüttern zu können.
BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 - 2 BvR 1616/18
Quelle: BVerfG, Pressemitteilung v. 15.12.2020