Der BGH hat ein Mitverschulden eines Radfahrers, der zu spät vor einem über einen Feldweg gespannten Stacheldraht gebremst und sich infolge eines Sturzes schwer verletzt hatte, verneint. Anders als die Vorinstanz nahmen die Bundesrichter keinen Verstoß gegen das sog. Sichtfahrgebot an. Demnach musste der Radfahrer mit einem derartigen Hindernis an dieser Stelle nicht rechnen.
Darum geht es
Der Geschädigte, ein seinerzeitiger Bundeswehroffizier, und die Bundesrepublik Deutschland als sein Dienstherr machen unter dem Vorwurf einer Verkehrssicherungspflichtverletzung gegen die Beklagten, eine Gemeinde und zwei Jagdpächter, Schadensersatzansprüche wegen eines Unfalls geltend.
Der Kläger unternahm am Nachmittag des 15. Juni 2012 mit seinem Mountainbike eine Radtour. Gegen 17.00 Uhr bog er von einer für den Kraftfahrzeugverkehr gesperrten Straße in einen zum Gebiet der beklagten Gemeinde gehörenden unbefestigten Feldweg ab. Nach ungefähr 50 m befand sich auf dem Weg eine Absperrung.
Diese bestand aus zwei in der Mitte des Weges befindlichen vertikalen nach unten auf den Boden gerichteten Holzlatten, an denen ein Sperrschild für Kraftfahrzeuge (Zeichen 260) befestigt war und die durch zwei waagerecht verlaufende verzinkte Stacheldrähte in der Höhe von etwa 60 cm und 90 cm gehalten wurden.
Diese waren ihrerseits seitlich des Feldweges an im Unterholz stehenden Holzpfosten befestigt. An einem der Holzpfosten konnten die Stacheldrähte gelöst werden, um die Absperrung zu öffnen. Diese war Ende der 1980er-Jahre mit Zustimmung der beklagten Gemeinde durch den damaligen Jagdpächter errichtet worden.
Der ehemalige Bürgermeister der beklagten Gemeinde hatte circa zwei- bis dreimal pro Quartal nach der Absperrung gesehen. Die Beklagten zu 2 und 3 waren die am Unfalltag verantwortlichen Jagdpächter des Niederwildreviers und nutzten den Feldweg regelmäßig, um zu einer hinter der Absperrung gelegenen Wiese zu gelangen, wo sich ein mobiler Hochsitz/Jagdwagen befand.
Als der Kläger die über den Feldweg gespannten Stacheldrähte bemerkte, führte er eine Vollbremsung durch; die Einzelheiten sind zwischen den Parteien streitig. Es gelang ihm nicht, sein Mountainbike rechtzeitig vor der Absperrung zum Stehen zu bringen, sondern er stürzte - links des Verkehrszeichens - kopfüber in das Hindernis.
Dort blieb er mit seiner Kleidung hängen und konnte sich nicht mehr bewegen. Gegen 19.20 Uhr bemerkte ihn der zufällig vorbeikommende Beklagte zu 2, der Rettungsdienst und Polizei alarmierte.
Durch den Sturz erlitt der Kläger einen Bruch des Halswirbels und als Folge eine komplette Querschnittslähmung unterhalb des vierten Halswirbels. Er ist seit dem Unfall dauerhaft hochgradig pflegebedürftig und bedarf lebenslang einer querschnittslähmungsspezifischen Weiterbehandlung mit kranken-, physio- und ergotherapeutischen Maßnahmen. Das Wehrdienstverhältnis endete zum 31.03.2014; seitdem ist der Kläger Versorgungsempfänger.
Der Kläger verlangt von den Beklagten als Gesamtschuldnern ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld von mindestens 500.000 € sowie die Feststellung der Ersatzpflicht bezüglich aller materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfall, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergegangen sind.
Die Bundesrepublik Deutschland verlangt Ersatz der Ausgleichszahlungen und von an den Geschädigten gezahlten Versorgungsbezügen gemäß Soldatenversorgungsgesetz, stationärer Behandlungskosten, von Kostenerstattungen für Heil- und Hilfsmittel sowie von Behandlungs- und Pflegeleistungen in Höhe von 582.730,40 €.
Außerdem verlangt sie die Feststellung der Ersatzpflicht bezüglich aller zukünftigen materiellen Schäden, soweit die Ansprüche auf sie übergehen.
Die Kläger machen geltend, die Gemeinde als Eigentümerin des Feldweges und die Jagdpächter hätten ihre Verkehrssicherungspflichten verletzt. Für den Geschädigten sei die Absperrung erst aus einer Entfernung von höchstens acht Metern erkennbar gewesen.
Das Landgericht hat die Klage als unbegründet abgewiesen. Auf die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht nach Beweisaufnahme das Ersturteil teilweise abgeändert und den Klagen unter Berücksichtigung eines Mitverschuldensanteils des geschädigten Klägers von 75 % stattgegeben.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Der BGH hat die Urteile des Oberlandesgerichts aufgehoben und die Sachen zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurückverwiesen.
Mit Recht hatte das Berufungsgericht eine schuldhafte Verkehrssicherungs-pflichtverletzung durch die Beklagten bejaht. Ein quer über einen für die Nutzung durch Radfahrer zugelassenen Weg gespannter, nicht auffällig gekennzeichneter Stacheldraht ist im wörtlichen wie auch im rechtlichen Sinne verkehrswidrig.
Ein solches Hindernis ist angesichts seiner schweren Erkennbarkeit und der daraus sowie aus seiner Beschaffenheit folgenden Gefährlichkeit völlig ungewöhnlich und objektiv geradezu als tückisch anzusehen, so dass ein Fahrradfahrer hiermit nicht rechnen muss.
Für diesen verkehrspflichtwidrigen Zustand haftet die Gemeinde als Trägerin der Straßenbaulast. Die Haftung der Jagdpächter folgt daraus, dass die Absperrung von einem früheren Jagdpächter in dieser Eigenschaft errichtet worden war, um eine Ruhezone für das Wild zu schaffen.
Die jetzigen Jagdpächter haben mit der Übernahme der Jagdpacht das Recht erworben, dieses Drahthindernis, das ihnen bekannt war, weiterhin zu benutzen, und damit aber auch die Verpflichtung, für die Verkehrssicherheit zu sorgen.
Der Kläger hat allerdings entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts nicht gegen das Sichtfahrgebot verstoßen, so dass ihm insoweit kein Mitverschulden an dem Unfall anzulasten ist.
Dieses Gebot verlangt, dass der Fahrer vor einem Hindernis, das sich innerhalb der übersehbaren Strecke auf der Straße befindet, anhalten kann. Es gebietet aber nicht, dass der Fahrer seine Geschwindigkeit auf solche Objekte einrichtet, die sich zwar bereits im Sichtbereich befinden, die jedoch - bei an sich übersichtlicher Lage - aus größerer Entfernung noch nicht zu erkennen sind.
Dies betrifft etwa Hindernisse, die wegen ihrer besonderen Beschaffenheit ungewöhnlich schwer erkennbar sind oder deren Erkennbarkeit in atypischer Weise besonders erschwert ist und auf die nichts hindeutet. Anderenfalls dürfte sich der Fahrer stets nur mit minimalem Tempo bewegen, um noch rechtzeitig anhalten zu können. Um ein solches Hindernis handelte es sich im vorliegenden Fall.
Daran änderte auch das an den Drähten angebrachte, mit nach unten auf den Boden gerichteten Holzlatten versehene Verkehrsschild nichts. Im Gegenteil erweckte es den Eindruck, der Weg sei für Fahrradfahrer frei passierbar.
Auch die dem Kläger vom Berufungsgericht angelastete fehlerhafte Reaktion auf das Hindernis, die zum Überschlag des Fahrrads führte, begründet nicht den Vorwurf eines Mitverschuldens.
Die falsche Reaktion eines Verkehrsteilnehmers stellt dann keinen vorwerfbaren Obliegenheitsverstoß dar, wenn dieser in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht vorhersehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgerechte unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlichem Erschrecken objektiv falsch reagiert.
Als Umstand, der ein anspruchsminderndes Mitverschulden des Klägers gemäß § 254 Abs. 1 BGB begründen könnte, bleibt lediglich, dass er auf dem unbefestigten und unebenen Feldweg statt der „normalen“ Fahrradpedale sogenannte Klickpedale nutzte.
Dies könnte allerdings einen Mitverschuldensvorwurf von allenfalls 25 % rechtfertigen. Hierzu wird das Berufungsgericht noch weitere Feststellungen zu treffen haben. Auf die Revisionen des Klägers und seines Dienstherrn sind die Verfahren daher an das Oberlandesgericht zurückverwiesen worden.
Auf die Revision der Beklagten ist zudem das Urteil in dem von dem Dienstherrn geführten Verfahren aufgehoben worden, weil das Berufungsgericht bisher keine hinreichenden Feststellungen zum Bestehen eines sogenannten Quotenvorrechts gemäß § 76 Satz 3 des Bundesbeamtengesetzes in Verbindung mit § 30 Abs. 3 Soldatengesetz getroffen hat.
BGH, Urteile v. 23.04.2020 - III ZR 250/17 und III ZR 251/17
Quelle: BGH, Pressemitteilung v. 23.04.2020