Dürfen Vorbeschäftigungszeiten beim selben Arbeitgeber zu einer Privilegierung von Arbeitnehmern führen? Soweit hierin eine Beeinträchtigung der europäischen Arbeitnehmerfreizügigkeit liegt, könnte dies durch den ebenfalls nach europäischen Vorgaben bezweckten Schutz befristet beschäftigter Arbeitnehmer gerechtfertigt sein. Diesen Konflikt soll nun der EuGH auf Vorlage des BAG lösen.
Sachverhalt
Eine Französischlehrerin trat, nachdem sie von 1997 bis 2014 ununterbrochen in Frankreich tätig gewesen ist, als angestellte Lehrerin in den Schuldienst des Landes Niedersachsen ein. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) Anwendung. § 16 Abs. 2 Satz 2, Satz 3 TV-L lauten:
„Verfügen Beschäftigte über eine einschlägige Berufserfahrung von mindestens einem Jahr aus einem vorherigen befristeten oder unbefristeten Arbeitsverhältnis zum selben Arbeitgeber, erfolgt die Stufenzuordnung unter Anrechnung der Zeiten der einschlägigen Berufserfahrung aus diesem vorherigen Arbeitsverhältnis. Ist die einschlägige Berufserfahrung von mindestens einem Jahr in einem Arbeitsverhältnis zu einem anderen Arbeitgeber erworben worden, erfolgt die Einstellung (...) bei (...) Vorliegen einer einschlägigen Berufserfahrung von mindestens drei Jahren - in Stufe 3.“
Die Lehrerin hat Klage auf Feststellung erhoben, ihr stünde seit der Einstellung wegen der vollständigen Berücksichtigung ihrer einschlägigen Berufserfahrung nicht Entgelt der Stufe 3, sondern der Stufe 5 der Entgeltgruppe 11 TV-L zu.
Das ArbG Lüneburg hat der Klage mit Urteil vom 03.12.2015 (4 Ca 150/15 E) stattgegeben. Das LAG Niedersachsen hat das Urteil auf die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 09.03.2017 (4 Sa 86/16 E) abgeändert und die Klage abgewiesen. Es hat die Revision zugelassen. Das BAG hat das Verfahren mit Beschluss vom 18.10.2018 (6 AZR 232/17) ausgesetzt und einen Vorlagebeschluss nach Art. 267 AEUV gefasst.
Wesentliche Aussagen der Entscheidung
Die Vorschrift des § 16 Abs. 2 TV-L beeinträchtigt mit der Privilegierung der beim selben Arbeitgeber erworbenen Berufserfahrungszeiten die Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Streitentscheidend ist die Frage, ob diese Beeinträchtigung durch den Schutzzweck der Vorschrift gerechtfertigt ist. Diese bezweckt mit der Privilegierung die Wahrung des Besitzstands insbesondere von zuvor beim selben Arbeitgeber befristet beschäftigter Arbeitnehmer.
Dieser Schutz ist wegen Paragraph 4 Nr. 4 der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge, die im Anhang der RL 1999/70/EG enthalten ist („Rahmenvereinbarung“), unionsrechtlich geboten. Die Klärung der Frage, wie die Kollision zweier auf unterschiedliche Schutzziele gerichteter Normanwendungsbefehle des Unionsrechts aufzulösen ist, fällt in die Zuständigkeit des EuGH.
Das Revisionsverfahren wird deshalb bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.
Gleichzeitig hat das BAG einen Vorlagebeschluss nach Art. 267 AEUV gefasst. Der EuGH wird um die Beantwortung der Frage ersucht, ob Art. 45 Abs. 2 AEUV einer Regelung wie der in § 16 Abs. 2 TV-L getroffenen entgegenstehen, wonach die bei dem bisherigen Arbeitgeber erworbene einschlägige Berufserfahrung privilegiert wird, wenn diese Privilegierung durch § 4 Nr. 4 Rahmenvereinbarung unionsrechtlich geboten ist.
Folgerungen aus der Entscheidung
Mit seinem Urteil vom 23.02.2017 (6 AZR 843/15) hat das BAG entschieden, dass bei einem rein inländischen Sachverhalt die tarifliche Vorschrift des § 16 Abs. 2 TV-L mangels unionsrechtlichen Bezugs nicht an unionsrechtlichen Vorschriften gemessen wird.
Im vorliegenden Fall begründet die langjährige Tätigkeit der Klägerin in Frankreich einen hinreichenden Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat. „Jeder Unionsbürger, der vom Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch gemacht und in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Wohnsitzstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt hat, (fällt) unabhängig von seinem Wohnort und seiner Staatsangehörigkeit in den Anwendungsbereich von Art. 45 AEUV“ (EuGH, Urt. v. 26.05.2016 – C-300/15; EuGH, Urt. v. 28.02.2013 – C-544/11).
Das BAG legt die Schutzzwecke von Art. 45 AEUV und Paragraph 4 Nr. 4 Rahmenvereinbarung nicht als komplementär aus. Diese Auffassung ist kaum nachvollziehbar.
Insoweit bedarf es der Konsultation der schriftlichen Entscheidungsgründe. Richtigerweise stellt Art. 45 AEUV die Gleichbehandlung von Wanderarbeitern und die Rahmenvereinbarung den Schutz vor Benachteiligung von befristet beschäftigten Arbeitnehmern unabhängig von einem grenzüberschreitenden Bezug sicher. Die Schutzzwecke ergänzen sich.
Außerdem könnte die Rahmenvereinbarung nach Auffassung des BAG die Beeinträchtigung der Freizügigkeit von Wandarbeitnehmern rechtfertigen. Sekundärrechtliche Regelungen, die gegen Vorschriften des Primärrechts wie diejenige des Art. 45 AEUV verstoßen, wären nach der Rechtsprechung des EuGH aber ungültig (vgl. EuGH, Urt. v. 01.03.2011 – C-236/09). Sieht man mit dem BAG die aufgeworfenen Fragen der Auslegung des Unionsrechts als streitentscheidend an, ist seine Verfahrensweise nicht zu beanstanden.
Praxishinweis
Angesichts der ausgeprägt freizügigkeitssichernden Tendenz des EuGH ist es überwiegend wahrscheinlich, dass im vorliegenden Fall die Tarifvorschriften des § 16 Abs. 2 TV-L wegen Nichtvereinbarkeit mit der in Art. 45 AEUV enthaltenen Freizügigkeitsgewähr von deutschen Gerichten nicht angewendet werden dürfen.
BAG, Beschl. v. 18.10.2018 - 6 AZR 232/17 (A)
Quelle: Rechtsanwalt und FA für Arbeitsrecht Dr. Martin Kolmhuber