In Tarifverträgen kann der Anspruch auf jährliche Sonderzahlungen vom Bestand des Arbeitsverhältnisses zu einem Stichtag außerhalb des Bezugszeitraums im Folgejahr abhängig gemacht werden. Das hat das BAG entschieden und damit auf Unterschiede zwischen vom Arbeitgeber gestellten Vertragsbedingungen und tariflichen Regelungen hingewiesen. Entsprechende AGB-Klauseln wären demnach unwirksam.
Sachverhalt
Der Arbeitsvertrag eines Busfahrers enthielt eine Bezugnahmeklausel auf die für den Arbeitgeber geltenden Tarifverträge in ihrer jeweiligen Fassung. Nach den einschlägigen tariflichen Bestimmungen hatte der Arbeitnehmer Anspruch auf eine Sonderzahlung, die vollständig zurückzuzahlen sei, wenn das Arbeitsverhältnis auf Wunsch des Arbeitnehmers bis zum 31.03. des folgenden Jahres aus eigenem Verschulden beendet wird.
Der Busfahrer beendete sein Arbeitsverhältnis durch Eigenkündigung vom 01.10.2015 zum Ablauf des 14.01.2016. Mit der Novembervergütung 2015 leistete das Unternehmen an den Arbeitnehmer die Sonderzuwendung laut Tarifvereinbarung. Das Unternehmen erhob Klage auf Rückzahlung der Sonderzahlung.
Das ArbG Freiburg hat der Klage mit Urteil vom 30.11.2016 (10 Ca 143/16) stattgegeben. Das LAG Baden-Württemberg hat die Berufung mit Urteil vom 09.05.2017 (9a Sa 12/17) zurückgewiesen und die Revision zugelassen.
Wesentliche Aussagen der Entscheidung
Die Rückzahlungsverpflichtung des Beklagten, die sich aus der tarifvertraglichen Stichtagsregelung ergibt, verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Sie verletzt insbesondere nicht Art. 3 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG, die die Tarifvertragsparteien bei der tariflichen Normsetzung zu beachten haben.
Den Tarifvertragsparteien steht dabei aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu, über den Arbeitsvertrags- und Betriebsparteien nicht in gleichem Maß verfügen. Ihnen kommt eine Einschätzungsprärogative zu, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen sind.
Darüber hinaus verfügen sie über einen Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Regelung. Die Tarifvertragsparteien sind nicht verpflichtet, die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt, wenn es für die getroffene Regelung einen sachlich vertretbaren Grund gibt.
Die tarifvertragliche Regelung, die der Senat anzuwenden hatte, greift zwar in die Berufsfreiheit der Arbeitnehmer ein. Art. 12 Abs. 1 GG schützt auch die Entscheidung eines Arbeitnehmers, eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit in einem gewählten Beruf beizubehalten oder aufzugeben. Die Einschränkung der Berufsfreiheit der Arbeitnehmer ist hier aber noch verhältnismäßig. Die Grenzen des erweiterten Gestaltungsspielraums gegenüber einseitig gestellten Regelungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Tarifvertragsparteien sind nicht überschritten.
Einer weitergehenden Kontrolle nach §§ 305 ff. BGB unterliegt der Inhalt der tariflichen Regelung nicht, die aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung findet. Arbeitsvertragliche, in ihrer Gesamtheit einbezogene Tarifverträge unterliegen keiner solchen Inhaltskontrolle, weil eine solche gem. § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB nur bei einer Abweichung von Rechtsvorschriften stattfindet. Tarifverträge stehen nach § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB Rechtsvorschriften i.S.v. § 307 Abs. 3 BGB gleich.
Folgerungen aus der Entscheidung
Das BAG bestätigt einmal mehr seine Rechtsprechung, dass Gewerkschaften auf der Grundlage des Art. 9 Abs. 3 GG ein weiter Spielraum bei der Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen und eine Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Sinnhaftigkeit der jeweils getroffenen Regelungen zukommen. Die Entscheidung wird durch die Annahme der Richtigkeitsgewähr von Tarifverträgen legitimiert.
Grundlage dieses Ansatzes ist die Prämisse der Verhandlungsstärke und Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften. Dieses Prinzip hat seinen einfachgesetzlichen Ausdruck ansatzweise auch in der Vorschrift des § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB gefunden. Die Prämisse der Richtigkeitsgewähr rechtfertigt die gelockerte Kontrolle des Inhalts von Tarifverträgen. Das Ergebnis wird keinen großen Widerspruch provozieren. Die tarifliche Gestaltung ist weit davon entfernt, die Grenzen der verfassungsrechtlich garantierten Gestaltungsfreiheit zu überschreiten.
Die Entscheidung kann als Ausdruck des BAG verstanden werden, soweit wie möglich sicherzustellen, dass die Gewerkschaften angesichts erodierender Mitgliederzahlen und zunehmenden Bedeutungsschwundes als handlungsfähiger Sozialpartner erhalten bleiben. Vertrauen in die Kontrollfestigkeit und Wirksamkeit von Tarifverträgen macht diese (und damit das Tarifsystem insgesamt) attraktiv.
Praxishinweis
Für die Praxis ist das obiter dictum des Urteils, das sogar Eingang in die Pressemitteilung gefunden hat, von besonderer Bedeutung. Das BAG stellt ausdrücklich klar, dass die Rückzahlungsregelung als vom Arbeitgeber gestellte Vertragsbedingung unwirksam wäre. Als solche wäre sie als arbeitsvertragliche Allgemeine Geschäftsbedingung einer Klauselkontrolle nach § 307 Abs. 1 BGB zu unterziehen gewesen (ausführlich BAG, Urt. v. 18.01.2012 – 10 AZR 612/10). Damit stellt das BAG noch einmal ausdrücklich die unterschiedliche Kontrolldichte hinsichtlich tariflicher und arbeitsvertragliche Regelungen dar. Tarifverträge werden von gestaltungsfähigen Sozialpartnern geschlossen, Arbeitsverträge von verhandlungsschwächeren Arbeitnehmern.
BAG, Urt. v. 27.06.2018 - 10 AZR 290/17
Quelle: Rechtsanwalt und FA für Arbeitsrecht Dr. Martin Kolmhuber