Entscheidungsbesprechung: Für Rechtsanwälte stellt sich in der sozialgerichtlichen Praxis häufig die Frage der Bewilligung von PKH. Tatsächlich werden bundesweit jährlich bis zu 25 % der Verfahren in der Sozialgerichtsbarkeit um die Feststellung des Grads der Behinderung (GdB) nach dem SGB IX geführt.
LSG NRW, Beschl. v. 01.10.2009 — L 6 B 25/09 SB
BSG, Urt. v. 24.04.2008 — B 9/9a SB 8/06 R
Der Beitrag soll aktuelle Rechtsprechungslinien zur PKH und zu bestehenden Meinungsunterschieden näher aufzeigen.
Rechtsschutzinteresse bei GdB-Feststellung
Das LSG Nordrhein-Westfalen hatte jüngst über Zweifel am Rechtsschutzinteresse hinsichtlich der GdB-Feststellung unter dem Aspekt mutwilliger Rechtsverfolgung zu entscheiden. Es hat sich hierbei insbesondere auf Rechtsprechung des BSG bezogen. Dieses hatte zuletzt im April 2008 bestätigt, dass jeder behinderte Mensch Anspruch auf Feststellung des maßgeblichen GdB hat, unabhängig davon, ob sich seine gegenwärtige rechtliche und/oder wirtschaftliche Situation dadurch unmittelbar verbessert.
Keine Mutwilligkeit
Das erstinstanzlich zuständige SG hatte einen PKH- Antrag wegen mutwilliger Rechtsverfolgung abgelehnt. Der Kläger habe auch bei einem für ihn günstigen Ausgang des Rechtsstreits keine Vorteile. Er beziehe allein Grundsicherung nach dem SGB II, besitze kein Vermögen und könne daher keinen höheren Steuerfreibetrag bei erhöhtem GdB ausschöpfen. Andere relevante Vorteile seien weder erkennbar noch vorgetragen. Aus dem anwaltlichen Vorbringen, die Klage solle dem „Rechtsfrieden, der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit dienen“, hat das SG im Übrigen auf einen Rechtsstreit "aus Prinzip" geschlossen. Ein verständiger bzw. nicht bedürftiger Beteiligter würde bei einer solchen Konstellation unter Beachtung des Prozessrisikos keinen Prozess um die Erhöhung des GdB führen.
Das LSG NRW hat die Voraussetzungen von § 73 a Abs 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 ZPO bejaht und PKH für das Klageverfahren bewilligt. Insbesondere hat es entgegen dem SG die Mutwilligkeit der Rechtsverfolgung verneint. Mutwillen i.S.d. § 114 ZPO ist in sozialgerichtlichen Streitverfahren die Ausnahme (vgl. ebenso Meyer- Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 73 a Rn. 8, m.w.N.). Mutwilligkeit der gerichtlichen Rechtsverfolgung ist danach erst dann anzunehmen, wenn das rechtliche Begehren auf einfacherem Wege zu erreichen ist oder die Entscheidung in einem Parallelfall ohne rechtliche Nachteile abgewartet werden kann.
In seiner Begründung hat sich das LSG ausdrücklich auf das Urteil des BSG vom 24.04.2008 — B 9/9a SB 8/06 R, DRsp-Nr. 2008/17524, bezogen. Dort hält es das BSG ausdrücklich für unrichtig, das Rechtsschutzbedürfnis mit der Begründung zu verneinen, dass für einen Kläger ein von 60 auf 70 erhöhter GdB zweck- und nutzlos sei und keinen Sinn oder Verwendungszweck hätte. Vielmehr fehlt es nur dann am Rechtsschutzbedürfnis, wenn eine Klage für den Kläger offensichtlich keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile bringen kann (BVerwGE 121, 1; BSGE 82, 176, 177, 182 f; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, vor § 51 RdNr 16a).
Regelungssystem des SGB IX
Nach dem System des Schwerbehindertenrechts im SGB IX hat jeder behinderte Mensch Anspruch auf Feststellung des maßgeblichen GdB — unter- oder oberhalb des die Schwerbehinderteneigenschaft begründenden GdB 50 — unabhängig davon, ob sich seine gegenwärtige rechtliche und/oder wirtschaftliche Situation dadurch unmittelbar verbessert. Zudem führt das BSG im Einzelnen aus, die Berechtigung und der Sinn eines nach Zehnerstufen gradgenauen Feststellungsbescheides (und des ggf. daraus abgeleiteten Schwerbehindertenausweises) als "Eintrittskarte" in die unüberschaubar vielfältige Welt der Nachteilsausgleiche, Vergünstigungen und sonstigen Vorteile für behinderte Menschen zeige sich auch bei dem GdB 70 anhand diverser Vorteile. Dies gelte etwa für freien Eintritt in bestimmte Botanische Gärten bzw. Museen oder Befreiungen bzw. Ermäßigungen von Kurabgaben.
BSG: Rechtsschutzinteresse unabhängig von Vorteilen im Einzelfall
Das o.g. BSG-Urteil hat als (Prozess-)Voraussetzung jeder gerichtlichen Rechtsverfolgung das Bedürfnis nach Rechtsschutz (Rechtsschutzinteresse) bestätigt. In Verfahren nach dem SGB IX sprächen für ein Rechtsschutzbedürfnis u.a. die Materialien zur Vorgängervorschift des § 69 Abs. 1 Satz 6 SGB IX, dem § 3 Abs. 2 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) in der bis zum 30.06.2001 anzuwendenden Fassung. In der BT-Drucks. 10/5701 S. 9 heißt es, dass ein Feststellungsbescheid nur zu erlassen ist, wenn eine Behinderung mit einem Grad von wenigstens 20 gegeben ist.
Für ein Rechtsschutzinteresse unabhängig von im Einzelfall feststellbaren rechtlichen oder tatsächlichen Vorteilen wird vom BSG zudem der Unterschied von GdB-Feststellungen im Schwerbehindertenrecht einerseits zur verwandten Minderung der Erwerbstätigkeit (MdE)-Feststellung im Unfallversicherungs- und im Versorgungsrecht andererseits angeführt.
Das Schwerbehindertenrecht ist überwiegend umgekehrt aufgebaut: Der Schwerbehindertenausweis und — bei einem GdB unter 50 — der Feststellungsbescheid nach dem SGB IX führen nicht zu bestimmten gesetzlich geregelten Leistungen. Sie sind bewusst als davon unabhängige abstrakte Nachweise konstruiert, um außerhalb des Schwerbehindertenrechts an einen bestimmten GdB geknüpfte Ansprüche und Vergünstigungen "in einer Vielzahl von bundes-, landes-, kommunalrechtlichen und anderen Bestimmungen" (BT-Drucks 10/3138, S 13) wahrnehmen zu können ( sog. "dienende" Funktion von Feststellungen nach Schwerbehindertenrecht , vgl. auch BSG, Urt. v. 05.07.2007 — B 9/9a SB 2/07 R).
Unter diesen Umständen kommt es nach Ansicht des BSG nicht darauf an, ob im vorliegenden Zusammenhang nur auf gesetzlicher Grundlage geschaffene Nachteilsausgleiche oder auch privatwirtschaftliche Vergünstigungen, beachtlich sind (verneinend LSG Hamburg, Urt. v. 11.01.2006 — L 4 SB 14/05; 08.08.2006 — L 4 SB 22/05). Jedoch folge aus dem in § 1 SGB IX formulierten Rehabilitationsziel, die Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gesellschaft zu fördern, eine Einbeziehung aller Vorteile.
Zweifel an notwendiger Rechtsanwaltsbeiordnung in Schwerbehindertensachen
Dies wird von den Senaten innerhalb des Bayrischen LSG uneinheitlich beurteilt.
Beiordnung eines Rechtsanwalts nicht notwendig
Der 15. Senat hat durch Beschl. v. 03.11.2006 — L 15 B 799/06 SB die Gewährung von PKH in einem Rechtsstreit über die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft i.S.v. §§ 2 Abs. 2, 69 Abs. 1 SGB IX mit der Begründung verneint, die Beiordnung eines Rechtsanwalts sei gemäß § 121 Abs.1 ZPO nicht geboten, weil in sozialgerichtlichen Verfahren erster und zweiter Instanz eine Vertretung durch Anwälte nicht vorgeschrieben und auch nicht erforderlich sei. Denn der Ausgang des Verfahrens hänge regelmäßig vom Ergebnis der Sachverhaltsermittlung im Sinne von §§ 103 ff. SGG ab. Dazu bedürfe es keiner anwaltlichen Vertretung gleichsam als Mittler zwischen einem gegebenenfalls noch zu hörenden ärztlichen Sachverständigen und dem Kläger. Auch der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 18.12.2001 — 1 BvR 391/01 ändere daran nichts. Im Übrigen handele es sich nicht um einen besonders schwierigen Rechtsstreit, sondern um einen üblichen Vorgang, dem auch ein anwaltlich nicht Vertretener aufgrund der zutreffenden Rechtsmittelbelehrungen der beklagten Versorgungsverwaltung folgen könne. Unkenntnis der einschlägigen sozialrechtlichen Vorschriften sei auch nicht ausschlaggebend, da Merkblätter zur Verfügung stünden, die wesentliche Grundlagen und Nachteilsausgleiche nach dem SGB IX zusammengefasst erläutern würden. Die GdB-Kriterien der (damaligen) "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit u.a. nach dem Schwerbehindertengesetz" könnten aus dem Internet kostenlos heruntergeladen werden. Schließlich wiesen die SG, wenngleich rechtlich nicht dazu verpflichtet, vielfach auf die Möglichkeit hin, einen Arzt eigener Wahl auf eigenes Kostenrisiko zu benennen, § 109 SGG.
Gegenteilige Auffassung
Dieser Entscheidung widersprach jedoch in der Folgezeit der 18. Senat des Bayerischen LSG durch Beschl. v. 28.07.2008 — L 18 B 321/07 SB. Die Rechtsanwaltsbeiordnung auch in Schwerbehindertensachen sei erforderlich i.S.d. § 121 Abs. 2 ZPO. Dies entspräche der Absicht des Gesetzgebers, vgl. § 73a SGG, und sei auch nicht unter Bezug auf den Amtsermittlungsgrundsatz zu verneinen.
Der Auffassung des 15. Senats des Bayerischen LSG sei im Hinblick auf das Grundgesetz und die Rechtsprechung des BVerfG nicht zu folgen. Nach Art. 103 GG hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Danach ist für alle gerichtlichen Verfahren ein Mindestmaß an rechtlichem Gehör zu gewährleisten. Die an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten sollen Gelegenheit haben, sich zu dem für die Beurteilung des Gerichts in Betracht kommenden Sachverhalt vor der Entscheidung zu äußern (BVerfGE 7, 53). Dieses Recht ist von der Ausgestaltung des Verfahrens durch die verschiedenen Verfahrensordnungen unabhängig und gilt in Verfahren mit Untersuchungsgrundsatz wie beim SG nach §§ 103 Abs. 1, 106 SGG, vgl. auch § 62 SGG. Den Beteiligten soll nicht zugemutet werden, sich darauf zu verlassen, dass das Gericht schon aufgrund der Offizialmaxime zu einer richtigen Entscheidung gelangen werde (BVerfGE aaO, BayLSG Breith 99, 807). Keine dieser Vorschriften schließe es aus, dass im sozialgerichtlichen Verfahren schlechthin oder nur in Verfahren bestimmten Inhalts eine anwaltliche Vertretung erforderlich ist. Schließlich sei die Rechtsanwaltsbeiordnung auch aus dem Grundsatz der "Waffengleichheit" (§ 121 Abs. 2 ZPO) erforderlich, dazu auch BVerfG, Beschl. v. 22.06.2007 — 1 BvR 681/07, Deubner-Link 2007/14509.
Quelle: RiLSG Heinz Schäfer - Entscheidungsbesprechung vom 23.11.09