BayLSG, Urt. v. 08.12.2009 — L 5 R 884/09
Urteilsanmerkung: Das Bayerische Landessozialgericht hat mit seinem Urteil die Voraussetzungen einer fiktiven Klagerücknahme wegen Nichtbetreibens des Verfahrens näher konkretisiert. Danach sollen unspezifische Aufforderungen, insbesondere allgemeine Erinnerungen, die Klage beim SG nun zu begründen, nicht mehr genügen, um gem. § 102 Abs. 2 SGG in der ab dem 01.04.2008 geltenden Fassung zur fiktiven Klagerücknahme zu gelangen.
Darum geht es
Das Sozialgericht hatte gem. § 102 Abs. 2 SGG die Erledigung einer Klage festgestellt, die monatelang nicht begründet worden war. Dagegen legte der Kläger Berufung ein.
Wesentliche Entscheidungsgründe
In seinem Urteil betont das LSG, dass die weitreichende Wirkung der Rücknahmefiktion, nämlich der dauerhafte Verlust des Rechtsmittels, an strenge Voraussetzungen geknüpft ist.
Klarstellungen
Die Voraussetzungen der fiktiven Klagerücknahme wurden weiter ausdifferenziert.
Entscheidend sind danach regelmäßig
- Konkrete Aufforderungen, sich zu einzelnen Punkte näher zu äußern (z.B. welche Unterlagen wann durch wen wo abgegeben oder eingereicht worden sein sollten) bzw. für bestimmte Behauptungen Beweis anzutreten (etwa Teilnahme an einer ärztlichen Untersuchung oder vergleichbar konkrete Sachverhalte)
- eine Belehrung über die Fiktionswirkung der Rücknahme
- förmliche Zustellung, d.h. nicht Übermittlung per einfachem Brief („Erinnerungsschreiben“)
- bei Gerichtskostenpflicht nach § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG , etwa bei Beitragsstreitigkeiten nach dem SGB IV im Arbeitgebermandat, Hinweis auf die Gerichtskostenpflicht auch im Falle der Klagerücknahme entsprechend § 155 Abs. 2 VwGO
Klägerfreundliche Rechtsprechungslinie gestärkt
Mit dieser einschränkenden Auslegung wird die Tendenz in Teilen der obergerichtlichen Rechtsprechung gestärkt, strenge Anforderungen an die Aufforderung zur Nachholung und das Betreiben des Verfahrens aufzustellen. So hatte auch schon das LSG Berlin-Brandenburg mit einem durchaus klägerfreundlichen Beschluss vom 06.08.2009 — L 14 AS 1005/09 B, Umstände ausgeführt, in denen eine Betreibensaufforderung des SG gerade nicht die in § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG vorgesehene Rechtsfolge bewirken könne. So könne zwar im Einzelfall aus den tatsächlichen Umständen eine andauernde Arbeitsüberlastung, Nachlässigkeit oder Überforderung von Bevollmächtigten anzunehmen sein, ohne jedoch dadurch auf den für die Klagerücknahmefiktion erforderlichen Wegfall des Rechtsschutzinteresses zurück schließen zu dürfen.
Grundsätze zur Klagerücknahmefiktion
Seit dem 01.04.2008 gibt es die Fiktion der Klagerücknahme unter den Voraussetzungen des § 102 Abs. 2 SGG (grundlegend Bienert, NZS 2009, 554 ff.). Nach dieser durch das SGG- und Arbeitsgerichtsgesetz-Änderungsgesetz vom 26.03.2008 (BGBl. I S. 444 ff.) neu eingefügten Norm gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts mit Rechtsfolgenhinweis länger als drei Monate nicht betreibt. Angelehnt an § 92 Abs. 2 VwGO beruht die Rücknahmefiktion auf dem Gedanken, dass ab einem gewissen Zeitpunkt der Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers zu unterstellen ist (Tabbara, NZS 2008, 8 ff. (10), m.w.N,). Das Bundesverwaltungsgericht hatte dies schon zuvor zu § 92 Abs. 2 VwGO dahingehend ausgelegt, dass bei der Betreibensaufforderung zum Zeitpunkt ihres Erlasses begründete Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses bestehen müssten (BVerwG, Beschl. v. 05.07.2000 — 8 B 119/00 und Beschl. v. 12.04.2001 — 8 B 2/01).
Maßstab des Rechtsschutzinteresses beachtlich
Wegen der gravierenden Rechtsfolgen der gesetzlichen Fiktion — Verlust des Prozesses, Eintritt der Bestandskraft von Leistungsablehnungen bzw. sonstiger belastender Verwaltungsakte, etwa Beitragsbescheide — werden auch in der bisher vorliegenden sozialgerichtlichen Rechtsprechung durchaus erhebliche Anforderungen speziell an den Inhalt der gerichtlichen Aufforderung zum Betreiben des Verfahrens gestellt.
Dies entspricht der verfassungsrechtliche Rechtsschutzgarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG, weshalb alle Voraussetzungen des § 102 Abs. 2 SGG bereits nach den Gesetzesmotiven nur unter Berücksichtigung des strengen Ausnahmecharakters der Regelung anzuwenden und auszulegen sind (Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 15.11.2007, BR-Drs. 820/07, S. 1 ff. (S. 23), ähnlich BVerfG, Beschl. v. 27.10.1998 — 2 BvR 2662/95 = DVBl. 1999, 166 ff., zustimmend Bienert, NZS 2009, 554, m.w.N.). Erforderlich sind mithin Anhaltspunkte dafür, dass trotz eingetretener Verzögerung des Rechtsstreits an einer Entscheidung noch Interesse besteht.
Ungeeignete Hinweise bzw. Aufforderungen des SG
Konsequenterweise soll daher die bloße Aufforderung, sich konkret zum Begehren zu äußern, verbunden mit einem Hinweis auf die Rechtsfolgen des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG n.F. nicht ausreichen, um die Klagerücknahmefiktion auszulösen. Angelehnt an die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zum regelungsähnlichen § 92 Abs. 2 VwGO wird vielmehr eine konkrete Anforderung, etwa näherer Äußerungen zu streitigen Umständen, zur Vorlage bestimmter Beweismittel etc, verlangt.
Auch die Formulierung, dass eine Frist zur ergänzenden Klagebegründung laufe und nach deren fruchtlosem Verstreichenlassen die Rechtsfolge des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG n.F. vom Gericht angenommen werde, reicht jedenfalls auch nach dem Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 06.08.2009 (aaO) nicht für die Annahme der Klagerücknahmefiktion aus. So sah das LSG Berlin-Brandenburg in diesem Beschluss auch keinen die Fiktion der Klagerücknahme auslösenden Umstand darin, dass die Prozessbevollmächtigten bereits in der Klageschrift vom 31.12.2007 eine "ausführliche" Klagebegründung angekündigt, diese aber bis zum Erlass der Betreibensaufforderung Monate später noch nicht vorgelegt hatten. Dies gebe keinen Anlass, am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses der Klägerin zu zweifeln. Zum einen sei die Klagebegründung nicht zwingend erforderlich (§ 92 Abs. 1 Satz 4 SGG). Zum anderen habe die Prozessbevollmächtigte die Klage bereits in der Klageschrift zumindest ansatzweise begründet bzw. später auf Arbeitsüberlastung hingewiesen.
Streitig: Fiktive Berufungsrücknahme?
In Berufungsverfahren gegen erstinstanzliche Urteile bzw. Gerichtsbescheide ist die Anwendung der Rücknahmefiktion im Rechtsmittelzug nicht unumstritten. Problematisch ist insoweit, ob auch eine Berufung nach §§ 102 Abs. 2 Satz 1, 153 Abs. 1 SGG als zurückgenommen gilt, wenn das Verfahren trotz Aufforderung länger als drei Monate nicht betrieben, insbesondere die Berufung nicht begründet wird.
Nach Auffassung des LSG Hamburg, Urt. v. 18.03.2009 — L 1 R 9/09 sowie v. 24.09.2009 — L 1 R 94/09 gilt die Klagerücknahmefiktion nach § 102 Abs. 2 SGG gemäß § 153 Abs. 1 SGG für das Berufungsverfahren entsprechend. Die Vorschriften über das Berufungsverfahren ergäben insoweit im Sinne von § 153 Abs. 1 (a.E.) SGG auch "nichts anderes". Das LSG Hamburg folgt nicht der anderslautenden Auffassung von Keller (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9.Aufl. 2008, § 156 Rdnr. 1b), der im SGG keine dem § 126 Abs. 2 VwGO entsprechende Fiktion der Rücknahme der Berufung findet und die allgemeine Verweisungsnorm auf das erstinstanzliche Verfahren, § 153 Abs. 1 SGG, nicht für ausreichend erachtet.
Dann würden davon diejenigen Fälle nicht erfasst, in denen ein Kläger im ersten Rechtszug teilweise obsiegt hat und das von ihm wegen des Teilunterliegens anhängig gemachte Berufungsverfahren nicht betreibt. In dem Fall könne bei fehlendem Betreiben im Berufungsverfahren der Weg über die Fiktion der Rücknahme der Klage nicht beschritten werden. Das Beispiel zeige, dass es der Gesetzgeber offenbar schlicht übersehen habe, dass auch im Berufungsverfahren fehlendes Betreiben vorliegen kann und hierfür eine gesetzliche Handhabe zu schaffen ist. Hierfür spräche auch, dass das Problem in den Materialien (BT-Drs. 16/7716, Seite 13, 14 und 19, 20; BR-Drs. 820/07; BT-PPr. 16/136; BT-Drs. 16/8217) keine Erwähnung findet, vielmehr auch dort stets nur von der fingierten Klagerücknahme gesprochen wird. Ein der entsprechenden Anwendung von § 102 Abs. 2 SGG im Berufungsverfahren entgegenstehender Wille des Gesetzgebers ist danach mit dem LSG Hamburg nicht festzustellen, so dass die unplanmäßige Lücke durch analoge Anwendung des § 102 Abs. 2 SGG auf das Berufungsverfahren zu schließen ist.
Dem wird in der Literatur — trotz Nichterwähnung der Rücknahmefiktion in § 156 SGG — zugestimmt, da auch ein Berufungssenat über § 153 Abs. 1 i.V.m. § 102 Abs. 2 SGG – durch den Vorsitzenden oder Berichterstatter die Möglichkeit hat, den Kläger zum Betreiben des Verfahrens aufzufordern, und zwar auch dann, wenn er zweitinstanzlich Berufungsbeklagter ist (ebenso Bienert, NZS 2009, 554 ff.(558), m.w.N.).
Fazit
Es gibt die fingierte Rücknahme auch im Berufungsverfahren beim LSG.
Rechtsschutz gegen den Eintritt der Klagerücknahmefiktion
Ergeht ein (Prozess-) Urteil mit der Feststellung, dass die Klage durch fingierte Rücknahme erledigt sei, so sind dagegen die allgemeinen Rechtsbehelfe, insbesondere die Berufung zum LSG, gegeben. Ein bloß einstellender Beschluss gemäß § 102 Abs. 3 Satz 1 SGG ist — soweit die Voraussetzungen nicht vorlagen — aus Gründen der Klarstellung aufzuheben (ebenso Bienert, NZS 2009, 554 ff. ( 558), m.w.N.).
Quelle: RiLSG Heinz Schäfer - Urteilsanmerkung vom 21.01.10