Das BSG hat zur Kostenerstattung für auf Privatrezept verordnete, selbst beschaffte, außerhalb ihres bestimmungsgemäßen Indikationsgebiets angewandte Arzneimittel entschieden.
Es hat dabei auf die besonderen Umstände des zu entscheidenden Einzelfalls abgestellt.
Sachverhalt:
Die Beteiligten streiten über die Kostenerstattung für das auf Privatrezept verordnete, selbst beschaffte, außerhalb seines bestimmungsgemäßen Indikationsgebiets angewandte Arzneimittel Venimmun (Off-Label-Use) zur Behandlung einer Multiplen Sklerose (MS). Bei der 1969 geborenen Klägerin traten erstmals 1990 neurologische Störungen auf. 1996 wurde bei ihr eine MS (Typ: G.35.0) festgestellt, die bisher nicht zu wesentlichen Ausfallerscheinungen (zB Lähmungen, Störungen der Beweglichkeit oder Motorik) geführt hat. 2002 beabsichtigte der die Klägerin behandelnde Vertragsarzt Neurologe F. die intravenöse Verabreichung von Immunglobulinen (IVIG). Er sah hiervon zunächst wegen Schwangerschaft der Klägerin ab, sprach sich aber in einer schriftlichen Therapieempfehlung vom 06.22.2003 für die Zeit nach der Entbindung für eine Behandlung mit Immunglobulinen aus. Die Klägerin wurde am 14.05.2003 entbunden und noch während des stationären Krankenhausaufenthalts ab dem 15.05.2003 auf die Empfehlung des Neurologen F. von den Krankenhausärzten dreimal intravenös mit dem zur Behandlung von MS nicht zugelassenen, zur Gruppe der Immunglobuline gehörenden Arzneimittel Venimmun behandelt. Damit sollte - so der Neurologe - eine nach der Entbindung zu erwartende Krankheitsaktivitätssteigerung mit Schub verhindert werden, zumal Venimmun - anders als die zur MS-Behandlung zugelassenen Interfernone und das Arzneimittel Copaxone - ohne zeitliche Verzögerung wirke und während der Stillphase ohne Beeinträchtigung des Kindes verabreicht werden könne. Die Klägerin erhielt während der Stillzeit vom 18.06.2003 bis zum 11.10.2004 alle vier Wochen "Venimmun N 10 g" von dem Neurologen F. auf Privatrezept verordnet. Die Beklagte lehnte den nach Krankenhausentlassung und Beginn der ambulanten Behandlung gestellten Antrag ab, die Kosten für das Arzneimittel zu übernehmen.
Das SG hat die Beklagte zur beantragten Kostenerstattung in Höhe von 11.302 Euro verurteilt. Das LSG hat die Berufung der Beklagten unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerfG zur verfassungskonformen Auslegung leistungsrechtlicher Vorschriften des SGB V zurückgewiesen.
Die Beklagte rügt mit ihrer Revision, dass bei der Klägerin weder die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use bei MS noch eine notstandsähnliche Situation vorgelegen hätten. Auch die Grundsätze des Art. 6 Abs 4 GG könnten eine Verordnung des begehrten Arzneimittels zu Lasten der GKV nicht begründen.
Entscheidung:
Der Senat hat die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Die beklagte Krankenkasse hat die beantragte Kostenerstattung zu Recht abgelehnt. Sie durfte nicht verurteilt werden, der Klägerin die Kosten des ihr auf Privatrezept verordneten und von ihr selbst beschafften, außerhalb seines bestimmungsgemäßen Indikationsgebiets angewandten Arzneimittels Venimmun zu erstatten. Die Voraussetzungen des § 13 SGB V für einen Kostenerstattungsanspruch sind nicht erfüllt. Zwar hat die Beklagte die Versorgung der Klägerin mit dem begehrten Arzneimittel abgelehnt, jedoch fehlt es an der Kausalität zwischen der ablehnenden Entscheidung der Beklagten und dem Kostenaufwand der Klägerin. Die Klägerin hatte bei der Beklagten noch keinen Antrag auf Versorgung mit dem begehrten Arzneimittel gestellt, als sie sich nach ihrer Entlassung aus der stationären Krankenhausbehandlung ab dem 18.06.2003 in ambulanter Behandlung mit Venimmun versorgen ließ. Vielmehr wandte sie sich erstmals im Juli 2003 an die Beklagte. Der im Mai 2003 gestellte Antrag des Neurologen F., die Beklagte möge bei der Behandlung der Klägerin mit Immunglobulinen als Sachleistung bei ihm von der Stellung eines "Prüfantrages wegen sonstigen Schadens" absehen, betraf nur seinen eigenen Rechtskreis und war nicht als für die Klägerin gestellten Leistungsantrag anzusehen oder zu werten.
Darüber hinaus scheitert ein Erstattungsanspruch der Klägerin daran, dass die Ablehnung ihrer Versorgung mit dem begehrten Arzneimittel nicht zu Unrecht erfolgt ist. Im Zeitpunkt der Behandlung der Klägerin (Juni 2003 bis Oktober 2004) bestand aufgrund der damals vorliegenden konkreten Datenlage keine begründete Aussicht darauf, dass gerade mit einem Immunglobulin wie Venimmun ein Behandlungserfolg bei Multipler Sklerose erzielt werden kann. Hinreichend sichere wissenschaftliche Erkenntnisse lagen insoweit nicht vor. Auch drohte nach den konkreten Umständen des Falles nicht, dass sich ein voraussichtlich tödlicher Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen werde.
Auch unter Berücksichtigung der Wertungen des Art. 6 Abs 4 GG konnte das Bedürfnis der Klägerin, ihre Tochter zu stillen und dennoch zur Vermeidung unmittelbar nach der Geburt ihres Kindes erwarteter Schübe mit dem Arzneimittel Venimmun behandelt zu werden, einer notstandsähnlichen Situation Schwerstkranker nicht gleichgestellt werden. Dies hätte nämlich zur Folge, dass Venimmun für die Indikation Multiple Sklerose ohne die arzneimittelrechtlich vorgesehene Kontrolle der Sicherheit und Qualität eingesetzt werden könnte. Das geschilderte Interesse der Klägerin muss insoweit hinter dem Anliegen des Gesetzes an einem wirksamen Patientenschutz vor inakzeptablen unkalkulierbaren Risiken für die Gesundheit zurücktreten. Besonderes Gewicht hat dabei, dass es vorliegend nicht nur um Gesundheitsrisiken für die Klägerin selbst geht, sondern während der Stillzeit auch um Gesundheitsrisiken für ihr Kind.
Quelle: BSG - Pressemitteilung vom 28.02.08