Ein früherer Wanderarbeitnehmer und seine Kinder, denen ein Aufenthaltsrecht aufgrund des Schulbesuchs der Kinder zusteht, können nicht mit der Begründung, dass dieser Arbeitnehmer arbeitslos geworden ist, automatisch von nach nationalem Recht vorgesehenen Leistungen der sozialen Grundsicherung ausgeschlossen werden. Das hat der EuGH im Fall von SGB II-Leistungen entschieden.
Darum geht es
JD ist polnischer Staatsangehöriger und wohnt seit 2013 mit seinen beiden minderjährigen Töchtern in Deutschland, wo die beiden Töchter zur Schule gehen. In den Jahren 2015 und 2016 übte JD in Deutschland mehrere abhängige Beschäftigungen aus und wurde dann arbeitslos.
Von September 2016 bis Juni 2017 bezog die Familie u. a. Leistungen der sozialen Grundsicherung nach den deutschen Rechtsvorschriften, nämlich Arbeitslosengeld II für JD und Sozialgeld für seine Kinder. Seit dem 2. Januar 2018 übt JD wieder eine Vollzeitbeschäftigung in Deutschland aus.
JD beantragte bei der zuständigen deutschen Behörde, dem Jobcenter Krefeld, die Weiterbewilligung dieser Leistungen für den Zeitraum Juni bis Dezember 2017.
Das Jobcenter Krefeld lehnte seinen Antrag jedoch mit der Begründung ab, dass JD im streitigen Zeitraum den Arbeitnehmerstatus nicht behalten habe und sich zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland aufhalte.
JD erhob gegen diesen Bescheid eine Klage, der stattgegeben wurde. Das Jobcenter Krefeld legte daraufhin Berufung beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (Deutschland) ein.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Auf ein Vorabentscheidungsersuchen dieses Gerichts hat der EuGH in einem Urteil der Großen Kammer vom 06.10.2020 die Rechte, die einem früheren Wanderarbeitnehmer mit unterhaltsberechtigten Kindern, die im Aufnahmemitgliedstaat zur Schule gehen, zustehen, im Licht der Verordnungen Nr. 492/2011 und Nr. 883/2004 sowie der Richtlinie 2004/38 präzisiert.
Hierzu hat der EuGH zunächst festgestellt, dass die fraglichen Leistungen der sozialen Sicherheit als „soziale Vergünstigungen“ im Sinne der Verordnung Nr. 492/2011 eingestuft werden können.
Der Gerichtshof hat dann erstens entschieden, dass diese Verordnung einer nationalen Regelung entgegensteht, die es unter allen Umständen und automatisch ausschließt, dass ein früherer Wanderarbeitnehmer und seine Kinder derartige Leistungen erhalten, obwohl sie nach dieser Verordnung ein eigenständiges Aufenthaltsrecht aufgrund des Schulbesuchs der Kinder genießen.
Zur Begründung dieses Ergebnisses hat der EuGH zunächst darauf hingewiesen, dass das Aufenthaltsrecht, das Kindern eines Wanderarbeitnehmers oder früheren Wanderarbeitnehmers zuerkannt wird, um ihnen Zugang zum Unterricht zu gewährleisten, und aus dem das Aufenthaltsrecht des Elternteils abgeleitet ist, der die elterliche Sorge für sie wahrnimmt, ursprünglich aus der Arbeitnehmereigenschaft dieses Elternteils folgt.
Ist dieses Recht einmal erworben, erwächst es jedoch zu einem eigenständigen Recht und kann über den Verlust der Arbeitnehmereigenschaft hinaus fortbestehen.
Des Weiteren hat der Gerichtshof entschieden, dass Personen, denen ein solches Aufenthaltsrecht zusteht, auch das in der Verordnung Nr. 492/2011 vorgesehene Recht auf Gleichbehandlung mit Inländern im Bereich der Gewährung sozialer Vergünstigungen genießen, und zwar selbst dann, wenn sie sich nicht mehr auf die Arbeitnehmereigenschaft berufen können, aus der sie ihr ursprüngliches Aufenthaltsrecht hergeleitet haben.
Diese Auslegung verhindert somit, dass eine Person, die beabsichtigt, gemeinsam mit ihrer Familie ihren Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen, um in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten, dem Risiko ausgesetzt ist, bei Verlust ihrer Beschäftigung den Schulbesuch ihrer Kinder unterbrechen und in ihr Herkunftsland zurückkehren zu müssen, weil sie nicht die nach den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Sozialleistungen in Anspruch nehmen kann, die den Lebensunterhalt der Familie in diesem Mitgliedstaat sicherstellen würden.
Schließlich hat der EuGH entschieden, dass sich der Aufnahmemitgliedstaat in einem Fall wie dem vorliegenden nicht auf die in der Richtlinie 2004/38 vorgesehene Ausnahme vom Grundsatz der Gleichbehandlung im Bereich der Sozialhilfe berufen kann.
Diese Ausnahme erlaubt es, bestimmten Kategorien von Personen, u. a. denjenigen, denen nach dieser Richtlinie ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche im Aufnahmemitgliedstaat zusteht, die Gewährung von Sozialhilfeleistungen zu versagen, um zu verhindern, dass diese Personen die Sozialhilfeleistungen dieses Mitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen.
Diese Ausnahme ist jedoch eng auszulegen und kann nur auf Personen Anwendung finden, deren Aufenthaltsrecht ausschließlich auf dieser Richtlinie beruht. Im vorliegenden Fall steht den Betroffenen zwar ein Aufenthaltsrecht aufgrund dieser Richtlinie zu, weil sich der betreffende Elternteil auf Arbeitsuche befindet.
Da sie sich auch auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach der Verordnung Nr. 492/2011 berufen können, kann ihnen diese Ausnahme jedoch nicht entgegengehalten werden.
Daher begründet eine nationale Regelung, die sie von jeglichem Anspruch auf Leistungen der sozialen Sicherheit ausschließt, eine Ungleichbehandlung gegenüber Inländern im Bereich der sozialen Vergünstigungen, die gegen diese Verordnung verstößt.
Zweitens hat der Gerichtshof entschieden, dass einem Wanderarbeitnehmer oder früheren Wanderarbeitnehmer und dessen Kindern, die ein Aufenthaltsrecht aufgrund der Verordnung Nr. 492/2011 genießen und in einem Sozialversicherungssystem im Aufnahmemitgliedstaat eingebunden sind, auch das Recht auf Gleichbehandlung aus der Verordnung Nr. 883/2004 zusteht.
Ihnen jeglichen Anspruch auf die fraglichen Leistungen der sozialen Sicherheit zu versagen, stellt daher eine Ungleichbehandlung gegenüber Inländern dar.
Diese Ungleichbehandlung verstößt gegen die letztgenannte Verordnung, da die in der Richtlinie 2004/38 vorgesehene Ausnahme auf die Situation eines solchen Arbeitnehmers und seiner Kinder, die zur Schule gehen, aus denselben Gründen, die der EuGH im Zusammenhang mit der Verordnung Nr. 492/2011 dargelegt hat, keine Anwendung finden kann.
EuGH, Urt. v. 06.10.2020 - C-181/19
Quelle: EuGH, Pressemitteilung v. 06.10.2020