Das Bundesverfassungsgericht hat die Anforderungen an die Entziehung der elterlichen Sorge konkretisiert. Um eine Trennung des Kindes von den Eltern zu rechtfertigen, müssen die Fachgerichte demnach im Einzelfall feststellen, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre.
Darum geht es
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Entziehung des Sorgerechts für seine im Februar 2013 geborene Tochter. Er stammt aus Ghana und lebt seit Anfang 2012 in Deutschland. Die Mutter leidet unter gravierenden psychischen Erkrankungen, keines ihrer vier älteren Kinder lebt bei ihr. Der Beschwerdeführer erkannte die Vaterschaft vorgeburtlich an, die Eltern gaben Sorgeerklärungen ab. Sie haben sich noch während der Schwangerschaft getrennt.
Nach einer einstweiligen Anordnung des Amtsgerichts wurde die Tochter des Beschwerdeführers kurz nach der Geburt in einer Pflegefamilie untergebracht, wo sie bis heute lebt; mit dem Beschwerdeführer finden begleitete Umgangskontakte statt. Im Ausgangsverfahren entzog das Amtsgericht beiden Eltern mit Beschluss vom 17.09.2013 die elterliche Sorge. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 06.02.2014 zurück.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Der Beschwerdeführer wird durch die angegriffenen Entscheidungen in seinem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt. Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt es nur dann, ein Kind von seinen Eltern gegen deren Willen zu trennen, wenn die Eltern versagen oder wenn das Kind aus anderen Gründen zu verwahrlosen droht.
Das elterliche Fehlverhalten muss ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Dies setzt voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Ob diese Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind, unterliegt einer strengen verfassungsgerichtlichen Überprüfung.
Die Feststellungen des Amts- wie des Oberlandesgerichts zur Gefährdung des Kindeswohls genügen diesen Anforderungen nicht.
Beide Gerichte stützen sich maßgeblich auf die Feststellungen in einem Sachverständigengutachten, die sie im Wesentlichen übernommen und allenfalls ansatzweise eigenständig tatsächlich eingeordnet und rechtlicher Würdigung unterzogen haben. Die Verwertbarkeit des Gutachtens unterliegt erheblichen verfassungsrechtlichen Zweifeln, welche die Gerichte nicht ausgeräumt haben.
Im Sachverständigengutachten wird die verfassungsrechtlich gebotene Frage nach einer nachhaltigen Gefährdung des Kindeswohls weder explizit noch in der Sache gestellt. Stattdessen prüft es die Erziehungsfähigkeit der Eltern in einer Weise, die nicht geeignet ist, das rechtliche Merkmal der Kindeswohlgefahr in tatsächlicher Hinsicht aufzuklären.
Als Kriterien zieht es unter anderem heran, ob die Eltern dem Kind vermittelten und vorlebten, dass es „sinnvoll und erstrebenswert ist, zunächst Leistung und Arbeit in einer Zeiteinheit zu verbringen, sich dabei mit anderen messen zu können und durch die Erbringung einer persönlichen Bestleistung ein Verhältnis zu sich selbst und damit ein Selbstwertgefühl aufbauen zu können“, ob die Eltern der „geistigen Entwicklung ihres Kindes größtmögliche Unterstützung und Hilfe zukommen lassen, damit die Kinder hier nach ihrem geistigen Vermögen auf eine persönliche Bestleistung hin gefördert werden und diese erbringen können“ und ob die Eltern den Kindern ein „adäquates Verhältnis zu Dauerpartnerschaft und Liebe vorleben“.
Mit diesen Fragestellungen wird die Erziehungsfähigkeit des Beschwerdeführers an einem Leitbild gemessen, das die von Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG geschützte primäre Erziehungszuständigkeit der Eltern verfehlt.
Eltern müssen ihre Erziehungsfähigkeit nicht positiv „unter Beweis stellen“; vielmehr setzt eine Trennung von Eltern und Kind umgekehrt voraus, dass ein das Kind gravierend schädigendes Erziehungsversagen mit hinreichender Gewissheit feststeht.
Außerdem folgt aus der primären Erziehungszuständigkeit der Eltern in der Sache, dass der Staat seine eigenen Vorstellungen von einer gelungenen Kindererziehung grundsätzlich nicht an die Stelle der elterlichen Vorstellungen setzen darf. Daher kann es keine Kindeswohlgefährdung begründen, wenn die Haltung oder Lebensführung der Eltern von einem von Dritten für sinnvoll gehaltenen Lebensmodell abweicht und nicht die aus Sicht des Staates bestmögliche Entwicklung des Kindes unterstützt.
Außerdem finden sich Hinweise darauf, dass die Sachverständige dem Beschwerdeführer nicht mit der gebotenen Unvoreingenommenheit begegnet ist. Darauf deuten zahlreiche Feststellungen zu Lasten des Beschwerdeführers hin, die in keinem erkennbaren Zusammenhang zur von der Gutachterin konkret aufgeworfenen Frage stehen.
Zudem hat die Sachverständige Äußerungen und Verhaltensweisen des Beschwerdeführers ebenso wie seine von der Gutachterin wiederholt in den Vordergrund gerückte Herkunft aus einem afrikanischen Land in sachlich nicht nachvollziehbarem Maße negativ bewertet.
So geht sie davon aus, dass der Beschwerdeführer umfassend alle nahen zwischenmenschlichen Beziehungen - zur Mutter, Tochter und auch zur neuen Partnerin - dazu instrumentalisiere, seinen Aufenthaltsstatus zu sichern, und hält Äußerungen des Beschwerdeführers vor diesem Hintergrund tendenziell für unglaubwürdig.
Darüber hinaus bezeichnet die Sachverständige eine autoritäre, gewaltsame und von Unterwerfung der Kinder geprägte Erziehung als „afrikanische Erziehungsmethode“, stellt fest, die „afrikanischen Verhaltensweisen“ deckten sich nicht mit dem Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung und hält „Nachschulungen“ des Beschwerdeführers im Hinblick auf „die Einsichtsfähigkeit in die €päischen Erziehungsmethoden“ für erforderlich.
Dass das Sachverständigengutachten und die ergänzenden mündlichen Ausführungen für sich genommen keine verlässliche Grundlage für die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung bieten, würde indes nicht ohne weiteres zur Verfassungswidrigkeit der Entscheidungen führen.
Die Gerichtsentscheidungen könnten verfassungsgerichtlicher Kontrolle standhalten, wenn sie die Mängel des Gutachtens thematisierten, die fachliche Qualifikation der Sachverständigen näher klärten und nachvollziehbar darlegten, inwiefern Aussagen aus dem Gutachten gleichwohl verwertbar seien und zur Entscheidungsfindung beitragen können.
Die Entscheidungen hielten selbst bei völliger Unverwertbarkeit der sachverständigen Begutachtung verfassungsgerichtlicher Kontrolle stand, wenn sich das Vorliegen einer die Trennung von Kind und Vater rechtfertigenden Kindeswohlgefährdung aus den Entscheidungsgründen auch ohne Einbeziehung der Sachverständigenaussagen hinreichend nachvollziehbar ergäbe. Auch dies ist jedoch nicht der Fall.
Die angegriffenen Entscheidungen verfehlen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gefahrenfeststellung weiterhin unter anderem deshalb, weil sie zwar auf mögliche Defizite bei der Erziehungsfähigkeit des Beschwerdeführers eingehen, ohne dass sich daraus aber ergibt, von welcher Art, Schwere und Wahrscheinlichkeit die deswegen befürchteten Beeinträchtigungen des Kindes sind, und weshalb diese Gefahren so gravierend sind, dass sie eine Fremdunterbringung legitimieren.
Für die Fachgerichte ergibt sich aus Art. 6 Abs. 2 und 3 GG das Gebot, die dem Kind drohenden Schäden ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit nach konkret zu benennen und sie vor dem Hintergrund des grundrechtlichen Schutzes vor der Trennung des Kindes von seinen Eltern zu bewerten.
Stützen die Gerichte eine Trennung des Kindes von den Eltern - wie hier - auf Erziehungsdefizite und ungünstige Entwicklungsbedingungen, aus denen die erhebliche Kindeswohlgefährdung nicht ausnahmsweise geradezu zwangsläufig folgt, müssen sie sorgfältig prüfen und begründen, weshalb die daraus resultierenden Risiken für die geistige und seelische Entwicklung des Kindes die Grenze des Hinnehmbaren überschreiten. Dies ist hier nicht geschehen.
BVerfG, Beschl. v. 19.11.2014 - 1 BvR 1178/14
Quelle: BVerfG, Pressemitteilung v. 28.11.2014