Schwere Pflichtverletzungen einer Betreuerin rechtfertigen unter besonderen Umständen die außerordentliche Kündigung eines Heimvertrags, auch wenn dies zu einer erheblichen Belastung für die betreute behinderte Person führen kann. Bei der Abwägung müssen die die Rechte und Interessen der schwerstbehinderten Person berücksichtigt werden. Das hat das OLG Frankfurt entschieden.
Darum geht es
Die Klägerin ist ein gemeinnütziger Rechtsträger und betreibt eine Wohneinrichtung für Menschen mit geistigen, seelischen oder körperlichen Behinderungen in Frankfurt am Main. Die Beklagte ist geistig und körperlich behindert und wird von ihrer Mutter gesetzlich betreut.
Sie hat einen hohen Pflegebedarf und wohnt in der Wohneinrichtung der Klägerin. Bereits kurz nach Einzug bat die Klägerin, bestehende Konflikte im Gespräch zu klären, und stellte andernfalls eine fristlose Kündigung in Aussicht.
Die Betreuerin wies die Vorwürfe zurück und beanstandete ihrerseits die Betreuung und Pflege. Eine Einigung kam nicht zustande. Die Klägerin kündigte nachfolgend den Vertrag aus wichtigem Grund.
Mit ihrer Klage verlangt sie die Herausgabe des von der Beklagten bewohnten Zimmers. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin hatte vor dem OLG Erfolg.
Der Klägerin könne die Fortsetzung des Heimvertrages aufgrund der schuldhaften gröblichen Verletzung der vertraglichen Pflichten seitens der Beklagten bzw. ihrer Betreuerin nicht mehr zugemutet werden.
Dabei sei der Beklagten das Verhalten ihrer Betreuerin zuzurechnen (§§ 278, 1902 BGB). Der Heimvertrag enthalte die Nebenpflicht, das Erbringen der Leistungen durch die Klägerin zu ermöglichen und hierbei zu kooperieren.
Diese Verpflichtung treffe praktisch nicht die Beklagte selbst, der ein anderes Verhalten gerade nicht vorwerfbar wäre, sondern ihre Betreuerin, die für sie die vertraglichen Handlungen übernehme. Die Nebenpflicht bedeute zwar nicht, dass die Beklagte bzw. ihre Betreuerin nicht ihre eigenen Vorstellungen über die Behandlung verfolgen und deren Umsetzung erwarten dürften.
Die Klägerin müsse sich auch jederzeit bei begründetem Anlass Beschwerden der Betreuer stellen. Die Beklagte als schwerbehinderter Mensch, die sich nicht selbst helfen kann, sei existenziell darauf angewiesen, dass sich andere ihrer annehmen und ihre Rechte wahren.
Eine Pflichtverletzung bei der Wahrnehmung der Interessen der Beklagten komme deshalb nur unter besonderen Umständen in Betracht. Diese lägen hier allerdings vor.
Die Betreuerin habe sich nicht auf eine Interessenwahrnehmung beschränkt, sondern dabei zugelassen, dass ihr Lebensgefährte wiederholt in nicht hinnehmbarer Weise gegenüber dem Personal aufgetreten sei. Sie sei jedoch verpflichtet gewesen, in ausreichender Weise mäßigend auf ihren Lebensgefährten einzuwirken.
Dieser habe die Mitarbeiter der Klägerin insgesamt persönlich herabgewürdigt unter anderem durch Bezeichnungen wie „Idioten“ und „Saftladen“, sich respektlos verhalten, sie gemaßregelt und es zuletzt sogar darauf angelegt, sie im Vorbeigehen zu rempeln.
Er habe unmotiviert geschrien und geflucht und dabei in emotionaler Weise mit einem Publikmachen über das Fernsehen und mit juristischen Schritten gedroht. Insgesamt habe er eine beängstigende Atmosphäre geschaffen. Schlichtungsgespräche seien erfolglos verlaufen.
Es sei keine Bereitschaft zu erkennen gewesen, das erkennbar bestehende erhebliche Problem im Umgang miteinander in irgendeiner Weise selbst mit zu lösen. Zur Erreichung des Vertragszwecks gehöre aber eine unabdingbare Bereitschaft aller Beteiligten zur Kooperation; dies setze jedenfalls ein Mindestmaß an gegenseitigem Verständnis voraus.
Bei der gebotenen Abwägung der beiderseitigen Interessen sei zu berücksichtigen, dass die Kündigung sich für die Beklagte selbst als erhebliche Belastung auswirken werde. Andererseits erfordere aber gerade die Betreuung und Pflege der Beklagten als in hohem Maße verantwortungsvolle und mit emotionalen Belastungen verbundene Tätigkeit ein stabiles Vertrauensverhältnis zwischen den Mitarbeitern der Klägerin und der Beklagten sowie ihren Angehörigen.
Dieses erforderliche Mindestmaß eines gebotenen Vertrauensverhältnisses bestehe aber seit geraumer Zeit nicht mehr. Es sei auch nicht erkennbar, dass dies in absehbarer Zeit wiederhergestellt werden könne.
In Hinblick auf die Schwierigkeiten, einen angemessenen anderen Heimplatz zu finden, wurde eine Räumungsfrist bis zum 31.12.2019 bestimmt.
Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. Die Beklagte hat Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH eingelegt.
OLG Frankfurt am Main, Urt. v. 29.05.2019 - 2 U 121/18
Quelle: OLG Frankfurt am Main, Pressemitteilung v. 18.07.2019