Familienrecht -

Anrechnung fiktiver Arbeitszeit bei geschuldetem Kindesunterhalt

Entscheidungsbesprechung mit Praxishinweis: Umfang der Anrechnung einer fiktiv angenommenen wöchentlichen Arbeitszeit bei geschuldetem Kindesunterhalt unter Berücksichtigung des Umgangs mitdem Kind.

Die Entscheidung: OLG Bremen, Beschl. v. 18.12.2008 - 5 WF 100/08, DRsp Nr. 2009/16324

Darum geht es
Die Parteien streiten um Kindesunterhalt. Das Amtsgericht hat in seiner PKH-Entscheidung ein fiktives Einkommen angesetzt, ohne dabei berufsbedingte Aufwendungen zu berücksichtigen. Auch sind nicht die gesamten Kosten für die Ausübung des Umgangsrecht anerkannt worden.

Entscheidungsgründe
Das Oberlandesgericht beanstandet das vom Familiengericht angesetzte Einkommen als überhöht. Es habe verkannt, dass Einkünfte, die neben einer vollen Beschäftigung erzielt werden, zu versteuern sind und hierfür auch Sozialabgaben zu entrichten sind (BVerfG, FamRZ 2008, 1403, 1404).

Der Senat geht davon aus, dass der 1980 geborenen Beklagte bei gehörigen Bemühungen eine Beschäftigung finden könnte, bei der er einen Stundenlohn von achtEuro brutto erzielt. Dabei wurde berücksichtigt, dass der Beklagte über keinen in Deutschland anerkannten Berufsabschluss verfügt und der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist. Zudem wird eine Erwerbsverpflichtung von insgesamt 45 Stunden in der Woche als noch zumutbar angesehen.

In Rechtsprechung und Literatur wird die Frage, wie viele Wochenstunden der seinen minderjährigen Kindern gegenüber zum Unterhalt Verpflichtete zu arbeiten hat, uneinheitlich beantwortet. Streitig ist, ob der Unterhaltsverpflichtete gehalten ist, neben einer vollen Stelle, also in der Regel einer 40-Stunden-Woche, eine Nebenbeschäftigung anzunehmen. Vor allem hat das Bundesverfassungsgericht in diesem Kontext wiederholt darauf hingewiesen, dass an den Unterhaltsschuldner keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden dürfen (BVerfG, FamRZ 2003, 661).

Ob die Aufnahme einer Nebentätigkeit zumutbar und damit für den Unterhaltsschuldner verpflichtend ist, hängt jeweils von den Umständen des Einzelfalls ab. Diese können wiederum nur anhand eines konkreten Vortrags festgestellt werden. Bleiben Zweifel, geht das zu Lasten des Unterhaltsschuldners, weil er für seine Leistungsunfähigkeit darlegungs- und beweisbelastet ist.

Vorliegend hat der Beklagte keine konkreten Einwendungen gemacht, die eine Beschäftigung von 45 Stunden in der Woche als unzumutbar erscheinen lassen. Der Umstand, dass er seine Kinder alle drei Wochen an einem Tag am Wochenende besucht, steht einer Nebenbeschäftigung bzw. einer 45-Stunden-Woche nicht entgegen. Zwar findet der Umgang jeweils an einem Samstag statt. Der Senat vermag indes keine Gründe zu erkennen, die – falls erforderlich – einer Verlegung der Besuchstermine auf den Sonntag entgegenstehen.

Zudem muss einem Unterhaltsschuldner, dem fiktives Einkommen angerechnet wird, auch die Möglichkeit eingeräumt werden, fiktive Fahrtkosten geltend zu machen. Der Senat schätzt die Kosten für eine Monatskarte auf 50 €.

Letztlich sind die vom Beklagten unstreitig vorgetragenen Umgangskosten insgesamt zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (grundlegend FamRZ 2005, 706) darf das Unterhaltsrecht dem Unterhaltspflichtigen nicht die Möglichkeit nehmen, sein Umgangsrecht zur Erhaltung der Eltern-Kind-Beziehung auszuüben. Deshalb sind die damit verbundenen Kosten konsequenterweise unterhaltsrechtlich zu berücksichtigen, wenn und soweit sie nicht anderweitig, insbesondere nicht aus dem anteiligen Kindergeld, bestritten werden können.

Hier kommt der Beklagte nicht in den Genuss seines Kindergeldanteils, weil er aufgrund seiner Einkommensverhältnisse unter Beachtung seines Selbstbehalts von 900 € seinen Kindern nicht einmal den Zahlbetrag leisten kann.

Das Argument, der Beklagte hätte nicht wegziehen brauchen, geht ins Leere. Tatsache ist, dass er die dargelegte Strecke zurücklegen muss, um seine Kinder regelmäßig besuchen zu können. Außerdem hat er konkrete und nachvollziehbare Gründe benannt, warum er aus Bremen weggezogen ist.

Hinsichtlich der Rückforderung wegen des überzahlten Wohngelds mag die Verbindlichkeit dem Grunde nach zwar anzuerkennen sein. Jedoch hat der Beklagte nicht dargetan, dass er auf die Forderung monatliche Raten zahlt, die einer Berücksichtigung zugänglich sein könnten.

Praxishinweise
Die Anrechnung von fiktiven Einkünften - speziell beim Minderjährigenunterhalt gem. § 1603 Abs. 2 BGB - wird von der Rechtsprechung teilweise sehr extensiv vorgenommen und insbesondere mit der Möglichkeit einer Nebentätigkeit begründet.

Der BGH rechnet fiktive Einkünfte nur dann zu, wenn der Unterhaltspflichtige keine oder keine ausreichenden zumutbaren Anstrengungen unternommen hat, eine angemessene Erwerbstätigkeit zu finden, und bei genügenden Bemühungen eine reale Beschäftigungschance bestanden hätte.

Speziell fiktive Einkünfte aus einer Nebentätigkeit können dem Unterhaltspflichtigen trotz der nach § 1603 Abs. 2 Satz 1 BGB gesteigerten Unterhaltspflicht gegenüber minderjährigen Kindern nur dann zugerechnet werden, wenn und soweit ihm eine solche Tätigkeit im Einzelfall zumutbar ist (BGH, Urt. v. 03.12.2008 - XII ZR 182/06, FamRZ 2009, 315). Der insoweit darlegungspflichtige Unterhaltsschuldner sollte zur Konkretisierung seiner persönlichen Belastungsgrenze genau ausführen, welchen Umfang seine Haupttätigkeit hat, welche Fahrtstrecken zur Arbeitsstelle anfallen und welche zeitlichen Einschränkungen sich aus seinen - verfassungsrechtlich geschützten - Umgangskontakten zu seinen Kindern ergeben.

Das OLG Bremen errechnet bei einer Erwerbsverpflichtung von insgesamt 45 Stunden in der Woche und einem erzielbaren Stundenlohn von 8 € ein Gesamtbruttoeinkommen von 1.558,80 € und Netto bei Steuerklasse III/3 von 1.225,23 € und bei Steuerklasse I/1,5 von 1.083,07 €. Dabei wird berücksichtigt, dass der Beklagte über keinen in Deutschland anerkannten Berufsabschluss verfügt und der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist.

Andere Gerichte verlangen bei gesteigerter Erwerbsobliegenheit vom Unterhaltspflichtigen, seine Sprachkenntnisse zu verbessern und ggf. einen Beruf zu erlernen , um 1.200 € monatlich zu erzielen (OLG Naumburg v. 29.07.2008 - 3 WF 194/08). Türkische Arbeitnehmer müssen sich auch bei türkischen Arbeitgebern bewerben (OLG Schleswig vom 14.11.2006, 15 WF 292/06, SchlHA 2008, 60).

Bei fiktivem Erwerbseinkommen sind auch ggf. fiktive Fahrtkosten anzusetzen. Wird dagegen Krankengeld des Unterhaltspflichtigen bei der Bedarfsbemessung zugrunde gelegt, ist dieses weder um pauschale berufsbedingte Kosten noch einen Erwerbstätigenbonus zu kürzen (BGH v. 19.11.2008 - XII ZR 129/06).

Ab 01.09.2009 tritt das FamFG in Kraft. Dann gibt es auch in Unterhaltsstreitigkeiten keine Prozesskostenhilfe mehr, sondern Verfahrenskostenhilfe nach §§ 76 ff. FamFG. Es besteht dann auch in isolierten Unterhaltsverfahren Anwaltszwang (§ 114 I FamFG), da Unterhaltsverfahren sog. Familienstreitsachen gem. § 113 FamFG sind.

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Quelle: Dr. Wolfram Viefhues, Richter am AG Oberhausen - Urteilsbesprechung vom 21.07.09