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Trennung des Kindes von den Eltern wegen erzieherischer Defizite?

Das Umgangsbestimmungsrecht ist selbstständiger Teil der Personensorge, der bei einer Kindeswohlgefährdung gesondert entzogen werden kann. Das hat der BGH entschieden und damit eine Streitfrage geklärt. Die Bundesrichter billigten mit ihrer Entscheidung die Trennung eines Kindes von seinen Eltern. An die tatrichterliche Sachaufklärung sind dann aber besondere Anforderungen zu stellen.

Sachverhalt

Das Verfahren betrifft die teilweise Entziehung der elterlichen Sorge. Die Rechtsbeschwerdeführer sind die Eltern eines 2008 geborenen Sohns und einer 2004 geborenen Tochter. Die Eltern erhalten wegen intellektueller Minderbegabungen und daraus resultierender kognitiver und sozialer Defizite seit 2007 sozialpädagogische Familienhilfe. Nach einer Gefahrenmeldung des Jugendamts im März 2011 wurde ihnen das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Kinder entzogen, die bereits in einem Kinderheim untergebracht waren. Die Tochter lebt seit Oktober 2013 in einer Wohngruppe, der Sohn seit Januar 2014 ebenfalls.

Im vorliegenden Verfahren hat das Amtsgericht den Eltern das „Recht auf Antragstellung und Mitwirkung zur Hilfeplanung“ sowie die Gesundheitssorge entzogen und ihren Antrag auf Abänderung der bereits getroffenen Maßnahmen (Aufenthaltsbestimmungsrecht) zurückgewiesen. Dagegen haben die Eltern Beschwerde eingelegt, die das OLG zurückgewiesen hat. Mit ihrer Rechtsbeschwerde streben die Eltern die Aufhebung sämtlicher getroffenen sorgerechtlichen Maßnahmen an.

Wesentliche Aussagen der Entscheidung

Die Rechtsbeschwerde bleibt ohne Erfolg. Das OLG hat die Abänderung der Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts zu Recht abgelehnt. Die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts ist aufgrund der vom OLG rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen aufrechtzuerhalten. Diese Maßnahme ist gem. §§ 1666, 1666a BGB zum Schutz des Kindes weiterhin erforderlich und verhältnismäßig.

Das OLG ist zutreffend davon ausgegangen, dass auch die Aufrechterhaltung der Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts am Maßstab von §§ 1666, 1666a BGB zu überprüfen ist. Insbesondere die fortwährende Trennung des Kindes von seinen Eltern bedarf der Legitimation durch eine aktuelle, mit der Rückführung des Kindes in den elterlichen Haushalt verbundene Kindeswohlgefährdung (BVerfG, Beschl. v. 20.01.2016 – 1 BvR 2742/15 und Beschl. v. 19.11.2014 – 1 BvR 1178/14).

Nach § 1666 Abs. 1 BGB hat das Familiengericht die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes gefährdet werden und die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Als derartige Maßnahme kommt auch die Entziehung einzelner Teile des Personensorgerechts, insbesondere des Aufenthaltsbestimmungsrechts, in Betracht (BGH, Beschl. v. 22.01.2014 – XII ZB 68/11).

Dabei ist der besondere Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG zu beachten. Die Erziehung des Kindes liegt primär in der Verantwortung der Eltern, die die Pflege und Erziehung frei von staatlichen Einflüssen und Eingriffen gestalten können. Aber das Kindeswohl muss die oberste Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung sein.

Soweit den Eltern das Sorgerecht für ihr Kind entzogen und damit zugleich die Aufrechterhaltung der Trennung des Kindes von ihnen verfestigt wird, muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit strikt beachtet werden. Art und Ausmaß des staatlichen Eingriffs müssen sich nach dem Grund des Versagens der Eltern und nach dem im Interesse des Kindes Gebotenen richten. Mit § 1666 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 1666a BGB hat der Gesetzgeber eine Regelung geschaffen, die es ermöglicht, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für besonders einschneidende Eingriffe in das Elternrecht, nämlich die Trennung des Kindes von den Eltern und den Entzug der Personensorge, Rechnung zu tragen (BVerfG, Beschl. v. 17.02.1982 – 1 BvR 188/80).

Auch das mildeste Mittel kann sich zudem als ungeeignet erweisen, wenn es mit anderweitigen Beeinträchtigungen des Kindeswohls einhergeht und bei einer Gesamtbetrachtung zu keiner Verbesserung der Situation des gefährdeten Kindes führt (BGH, Beschl. v. 26.10.2011 – XII ZB 247/11).

An die tatrichterliche Sachaufklärung sind in solchen Verfahren besondere Anforderungen zu stellen. Das gerichtliche Verfahren muss in seiner Ausgestaltung dem Gebot eines effektiven Grundrechtsschutzes entsprechen, weshalb insbesondere die zur Verfügung stehenden Aufklärungs- und Prüfungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden müssen (BVerfG, Beschl. v. 05.12.2008 – 1 BvR 746/08 und Beschl. v. 21.06.2002 – 1 BvR 605/02). Das bedeutet nicht nur, dass die Verfahrensgestaltung den Elternrechten Rechnung tragen muss. Vielmehr steht das Verfahrensrecht auch unter dem Primat des Kindeswohls, zu dessen Schutz der Staat im Rahmen seines Wächteramts gem. Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG verpflichtet ist.

Das Gericht muss das Verfahren so gestalten, dass es möglichst zuverlässig die Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung erkennen kann (BVerfG, Beschl. v. 05.12.2008 – 1 BvR 746/08). Die angefochtene Entscheidung entspricht diesen Anforderungen. Die vom OLG getroffenen Feststellungen sind verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden und tragen die fortdauernde Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts.

Das OLG ist zu Recht von einer schwerwiegenden Gefährdung des Kindeswohls ausgegangen, sodass die Aufrechterhaltung der Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts und die damit verbundene Trennung des Kindes von den Eltern erforderlich sind.

Aufgrund einer stark beeinträchtigten Erziehungseignung beider Eltern und der damit einhergehenden fehlenden Kompensationsmöglichkeit der Eltern sind diese nicht in der Lage, den Sohn im Hinblick auf seine erheblichen Entwicklungsrückstände und Verhaltensauffälligkeiten eigenständig zu betreuen und zu fördern. Ein Verbleib des Sohns bei den Eltern setzt umfangreiche Hilfestellungen und Unterstützung bei der Betreuung und Erziehung voraus, die indessen nur greifen kann, wenn die Eltern sie akzeptieren und daran mitarbeiten. Ein entsprechender Versuch war trotz hochfrequenter ambulanter Hilfen vom Mai 2012 bis zum Dezember 2013 gescheitert.

Um eine Trennung des Kindes von den Eltern zu rechtfertigen, muss das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Die Annahme einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes setzt voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (BVerfG, Beschl. v. 19.11.2014 – 1 BvR 1178/14).

Im vorliegenden Fall ist ein Schaden in diesem Sinne nach den verfahrensfehlerfrei getroffenen Feststellungen der Vorinstanzen bereits eingetreten. Der Sohn leidet an einer globalen Entwicklungs- und einer Sprachentwicklungsverzögerung, woraus ein weit über das normale Maß hinausgehender psychosozialer Förderbedarf resultiert. Er leidet an einer frühen, tief greifenden Bindungsstörung mit der Folge eines aggressiven und entgrenzten Verhaltens und benötigt Einzelbetreuung sowie ergotherapeutische Behandlung. Die Betreuung und Erziehung des Kindes können den Eltern mangels Erziehungsfähigkeit nicht überlassen werden.

Das OLG hat insbesondere auf die unterdurchschnittliche intellektuelle Begabung der Mutter und ihre Defizite im kognitiven, sprachlichen und sozialen Bereich verwiesen. Der Vater hat eine weit unterdurchschnittliche intellektuelle Begabung mit daraus resultierenden kognitiven und sozialen Defiziten und zeitweise impulsivem Verhalten. Da eine eigenständige Erziehung ohne intensive Hilfeleistung nicht verantwortet werden kann, müssten die Eltern diese akzeptieren, was indessen nicht der Fall ist.

Können selbst intensive Förder- und Unterstützungsleistungen ihr Ziel nicht erreichen, muss das staatliche Wächteramt effizient ausgeübt werden, um seinem Schutzauftrag gerecht zu werden. Es bestand keine Verpflichtung, weiter abzuwarten, ob die Eltern nach der Herausnahme der Tochter mit der Erziehung des Sohns allein nicht mehr überfordert sein würden. Sie hatten fast zwei Monate die Gelegenheit, sich nur um ihren Sohn zu kümmern, ohne dass sich eine Verbesserung gezeigt hätte. Die intensiven und umfangreichen Hilfsmaßnahmen sind gescheitert, und ein weiteres Abwarten würde das Kind weiter schädigen. Im Ergebnis ist daher nach §§ 1696 Abs. 2, 1666, 1666a BGB eine fortwährende Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts geboten.

Die Aufhebung der zusätzlichen Befugnisse zur Antragstellung bez. auf die Jugendhilfeleistungen war wegen der unzureichenden Kooperation der Eltern und der von ihnen abgelehnten Fremdunterbringung des Kindes gem. §§ 1666, 1666a BGB ebenfalls geboten. Auch die Entziehung des Umgangsbestimmungsrechts war zulässig und geboten. Das Gericht muss bei seiner Entscheidung eine konkrete und vollständige Regelung treffen und darf sie nicht dem Umgangspfleger als Drittem übertragen (BVerfG, Beschl. v. 17.06.2009 – 1 BvR 467/09).

Mit der elterlichen Sorge wird zugleich das Umgangsbestimmungsrecht entzogen, das sodann dem bestellten Vormund zusteht (BGH, Beschl. v. 19.02.2014 – XII ZB 165/13). Dieser regelt auch den Umgang des Kindes mit den Eltern. Durch einen uneingeschränkten Umgang würde der Sohn erneut in einen Loyalitätskonflikt gestürzt, was seiner weiteren Persönlichkeitsentwicklung abträglich wäre.

Die erstmalige Entziehung des Umgangsbestimmungsrechts im Beschwerdeverfahren ist verfahrensrechtlich zulässig. Ein Verbot der Reformatio in Peius besteht insoweit nicht, weil im Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB die Dispositionsmaxime nicht gilt und deshalb vom Rechtsmittelführer im Interesse des Kindeswohls auch eine Schlechterstellung hinzunehmen ist. Diese vor dem Inkrafttreten der FGG-Reform ergangene Rechtsprechung ist für das neue Verfahrensrecht aufrechtzuerhalten, zumal eine Änderungsabsicht des Gesetzgebers nicht ersichtlich ist.

Folgerungen aus der Entscheidung

Da es sich dabei um einen besonders einschneidenden Eingriff in das Elternrecht handelt, bedarf insbesondere die fortwährende Trennung des Kindes von seinen Eltern der Legitimation durch eine aktuelle, mit der Rückführung des Kindes in den elterlichen Haushalt verbundene Kindeswohlgefährdung. Dies ist am Maßstab von §§ 1666, 1666a BGB zu überprüfen. Wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes gefährdet werden und die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden, hat das Familiengericht die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Als solche kommt auch die Entziehung einzelner Teile des Personensorgerechts, insbesondere des Aufenthaltsbestimmungsrechts oder des Umgangsbestimmungsrechts, in Betracht.

Sind die Eltern in ihrer Erziehungsfähigkeit stark beeinträchtigt und können ihre Beeinträchtigungen nicht kompensieren, sind sie objektiv nicht in der Lage, ihr Kind eigenständig zu betreuen und zu fördern. Setzt ein Verbleib des Kindes bei den Eltern aufgrund erheblicher Entwicklungsrückstände und Verhaltensauffälligkeiten umfangreiche Hilfestellungen und Unterstützung voraus, die die Eltern jedoch nicht akzeptieren, ist zu seinem Schutz gem. §§ 1696 Abs. 2, 1666, 1666a BGB eine fortwährende Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts, des Umgangsbestimmungsrechts und der elterlichen Sorge nach § 1626 Abs. 1 BGB geboten.

Ob die Befugnis zur Umgangsbestimmung Bestandteil der elterlichen Sorge ist und ob ihr gegenüber der Umgangsregelung und der Bestimmung eines Umgangspflegers nach § 1684 Abs. 3 BGB ein eigenständiger Anwendungsbereich zukommt, ist umstritten. Nach Auffassung des BGH ist die Befugnis, über den Umgang eines minderjährigen Kindes zu bestimmen, Teil der elterlichen Sorge nach § 1626 Abs. 1 BGB. Dies wird zudem an der Regelung in § 1632 Abs. 2 BGB deutlich. Danach umfasst die Personensorge das Recht, den Umgang des Kindes auch mit Wirkung für und gegen Dritte zu bestimmen.

Auch die Bestimmung des Umgangs mit den Eltern fällt unter die Personensorge. Die Befugnis zur Umgangsbestimmung kann als Teil der Personensorge den Eltern entzogen werden. Ob eine solche Maßnahme angezeigt ist, ist unter den strengen Eingriffsvoraussetzungen einer Sorgerechtsentziehung zu beurteilen, wobei eine zu befürchtende weitere Kindeswohlgefährdung genügt. Mangels Geltung der Dispositionsmaxime im Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB ist vom Rechtsmittelführer im Interesse des Kindeswohls auch eine Schlechterstellung hinzunehmen.

Praxishinweis

Der BGH betont, dass ein staatlicher Eingriff in das Elternrecht als primäres Erziehungsrecht nur gerechtfertigt ist, wenn er zum Schutz des Kindes erforderlich ist. Auch bei der Aufrechterhaltung einer bereits vollzogenen Trennung des Kindes von den Eltern wird am Maßstab von §§ 1666, 1666a BGB der Fokus insbesondere auf das Kindeswohl gelegt. Sind die Eltern wegen erzieherischer Defizite nicht in der Lage, das Kind zu betreuen und zu erziehen, kommt vorrangig eine Hilfe von außen in Betracht. Wird diese jedoch nicht akzeptiert, sind zugunsten des Kindes und seiner weiteren Entwicklung staatliche Maßnahmen geboten.

Obwohl die Trennung des Kindes von den Eltern ein besonders einschneidender Eingriff in das Elternrecht ist, ist sie in solchen Fällen unumgänglich, um die weitere Entwicklung des Kindes zu unterstützen. Auch wenn die Entfaltung und Reifung des Kindes nicht gewährleistet werden können, ist der Eingriff die Pflicht des Staates in Ausübung seines Wächteramts und somit die erste Weichenstellung, um dem Kind für die Zukunft eine Möglichkeit zu bieten, aus einem wenig zukunftsorientierten Umfeld herauszukommen, und mit der Hilfestellung durch Fachpersonal eine Perspektive zur Aufarbeitung seiner bestehenden Defizite aufzuzeigen.

BGH, Beschl. v. 06.07.2016 – XII ZB 47/15

Quelle: Ass. jur. Nicole Seier