Am Ende ging es ganz schnell: Im Herbst 2019 haben Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat nacheindander und in Windeseile das Gesetz zu Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung beschlossen. Am 13.12.2019 ist es bereits in Kraft getreten.
Auf Sie als Pflichtverteidiger kommen damit 2020 einige Änderungen zu. Welche das sind, erfahren Sie auf diesen Seiten.
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Die Änderungen bei der notwendigen Verteidigung im Kurzüberblick
Während in der öffentlichen Wahrnehmung zuletzt die StPO-Reform im Vordergrund stand, wurden die weiteren bedeutsamen strafrechtlichen Neuregelungen auf dem Gebiet der notwendigen Verteidigung (Pflichtverteidigung) eher wenig beachtet. Dennoch sind die Neuregelungen auch bei der Pflichtverteidigung weitreichend. Mit dem folgenden Kurzüberblick verschaffen Sie sich schnell Durchblick - für mehr Hintergrundinformationen und wertwolle Praxishinweise laden Sie sich hier kostenlos den kompletten Spezialreport herunter.
- Ziele und Hintergrund der Neuregelung
- § 140 StPO Notwendige Verteidigung
- § 141 StPO Zeitpunkt der Bestellung eines Pflichtverteidigers
- § 141a StPO Vernehmungen und Gegenüberstellungen vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers
- § 142 StPO Zuständigkeit und Bestellungsverfahren
- § 143 StPO Dauer und Aufhebung der Bestellung
- § 143a StPO Verteidigerwechsel
- § 144 Zusätzliche Pflichtverteidiger
Gesetzestexte zur Neuregelung der Pflichtverteidigung
- Bundesgesetzblatt vom 12.12.2019: Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung
- Regierungsentwurf vom 12.6.2019
- Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26.10.2016
Reaktionen auf die Reform der Pflichtverteidigung
Vorauszuschicken ist, dass die längst überfällige Neufassung des Instituts der notwendigen Verteidigung auf breiter Ebene grundsätzlich begrüßt wird. Der Teufel steckt wie so oft jedoch im Detail – und hier wird dann doch an einigen Punkten Kritik laut.
Der Deutsche Anwaltverein (DAV) begrüßt, dass sich die Neufassung am sog. „Merits Test“ zur Notwendigkeit der Verteidigung orientiert. Damit werde am bestehenden System festgehalten und nicht die materielle Bedürftigkeit des Beschuldigten zum Kriterium erhoben, sondern die Pflichtverteidigung in erster Linie anhand der Umstände des Vorwurfs bestimmt, seiner justiziellen Behandlung sowie der sich hieran knüpfenden potentiellen Rechtsfolgen.
Ebenso begrüßt der DAV die Normierung des „Verteidigers der ersten Stunde“, der spätestens vor der Vernehmung des Beschuldigten beizuordnen ist. Allerdings lehnt er die Einschränkung wegen einer gegenwärtigen Gefährdung von Freiheit, Leib oder Leben einer Person oder einer erheblichen Gefährdung eines Strafverfahrens unter rechtsstaatlichen Aspekten ab. Die Ausnahmen seien auch nicht in der Richtlinie enthalten.
Der Deutsche Richterbund unterstützt die Neuregelung der notwendigen Verteidigung in weiten Teilen. Er begrüßt insbesondere, dass kein neues Institut der Prozesskostenhilfe in das Strafverfahren eingeführt wurde, sondern dass es bei den bewährten Instrumenten der Pflichtverteidigung und der Bestellung eines Rechtsbeistands bleibt.
Der Deutsche Richterbund ist allerdings der Auffassung, dass die notwendige Verteidigung nicht weiter gehen sollte, als europarechtlich geboten, und fordert klarere und für die Praxis einfacher zu handhabende Regelungen. Insbesondere sei die allgemeine Ausweitung auf das Ermittlungsverfahren von der Richtlinie nicht geboten und abzulehnen.
Der Frankfurter Fachanwalt für Strafrecht Prof. Dr. Holger Matt, Honorarprofessor an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, gab an, die Neufassung verfolge in europarechtswidriger Weise eine Minimierung und Aushöhlung der notwendigen Verteidigung, „verschlimmbessere“ den ursprünglichen Referentenentwurf und mache Korrektur- und Ergänzungsbedarf bei einzelnen neuen Regelungen erforderlich.
Der Zugang zum Recht müsse für diejenigen abgesichert werden, die dies aus eigenen Kräften nicht könnten oder wollten. Matt merkte auch an, dass die frühe Verteidigung generell keine unzuträgliche Verzögerung von Strafverfahren bewirke, sondern, ganz im Gegenteil, nicht selten eine Beschleunigung.
Der Rechtsanwalt Prof. Dr. Helmut Pollähne, Honorarprofessor für Strafrecht an der Universität Bremen, meint, es gebe gute Gründe die Verteidigung von Beschuldigten in ein frühes Stadium der Ermittlungen vorzuverlegen und es nicht bei Hinweisen der Polizei und der Staatsanwaltschaft zu belassen. Kritisch sieht er dagegen den Umstand, anwaltlichen Beistand von einem Antrag abhängig zu machen. Dies sei ein Bruch im bewährten System der Pflichtverteidigung.
Aber auch die Vertreter der Ermittlerseite tragen Bedenken. Andreas Heuer, Generalstaatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft Oldenburg, sagte, die Fassung sei abzulehnen, da sie in weiten Teilen nicht dem Regelungsgehalt der PKH-Richtlinie entspreche und deren Vorgaben zum Teil zuwiderlaufe.
Da sich Beschuldigte bereits nach früherem Recht in jeder Lage des Verfahrens eines Verteidigers bedienen konnte, entspreche die Ausweitung der notwendigen Verteidigung nicht dem Regelungsgehalt der PKH-Richtlinie. Dort sei ein Anspruch auf finanzielle Hilfe, keine zwangsweise Beiordnung, auch nicht im Ermittlungsverfahren, vorgesehen.
Heuer fügte hinzu, dass die Umsetzung etwa bereits bei der ersten Beschuldigtenvernehmung durch die Polizei erhebliche negative Auswirkungen auf die Strafverfolgung haben werde.
Dirk Peglow, stellvertretender Bundesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), erwartet von der Umsetzung eine nachhaltige Veränderung der polizeilichen und justiziellen Praxis, deren Folgen im Hinblick auf die Aufklärung schwerer Straftaten noch nicht absehbar seien.
Aufgrund der Vorverlagerung der Pflichtverteidigerbestellung auf den Zeitpunkt vor der ersten polizeilichen Vernehmung stehe eine wesentliche Abkehr von der bisherigen Rechtspraxis an, die diese Entscheidung bislang erst zum Zeitpunkt der richterlichen Vorführung für erforderlich erachtet habe.
Prof. Dr. Matthias Jahn vom Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Richter am Oberlandesgericht Frankfurt am Main, begrüßte die Änderungen, sah einige Punkte aber auch kritisch. Von einem Ende des Strafverfahrensrechts könne jedoch keine Rede sein. Die Umsetzung der Richtlinie innerhalb des bisherigen Systems der notwendigen Verteidigung verstößt aus seiner Sicht nicht gegen die Richtlinienvorgaben.
Wenig überraschend stehen sich die Bewertungen also teilweise diametral gegenüber. Nun bleibt zunächst abzuwarten, wie sich die Änderungen auf die Praxis auswirken. Es bleibt zu hoffen, dass der Gesetzgeber hier die Ruhe behält und nicht wieder in (blinden) Aktionismus verfällt. Anschließend können die Neuregelungen untersucht und überprüft werden, um zu evaluieren, wo noch weiterer Anpassungsbedarf besteht.