Eine zurzeit rechtlich wie wirtschaftlich heiße Frage im Schadenersatzrecht lautet: Muss der Geschädigte nach einer so genannten 130 % - Reparatur zunächst eine sechsmonatige Weiternutzung des Fahrzeugs nachweisen, bevor die über den Wiederbeschaffungsaufwand hinaus gehende Integritätsspitze fällig wird?
Althergebracht wurde verlangt, dass nach vollständiger und fachgerechter Instandsetzung das Fahrzeug vom Geschädigten weitergenutzt wurde. Immerhin wird dem Schädiger das „Opfer“ zugemutet, Reparaturkosten innerhalb der „Opfergrenze“ zu erstatten, obwohl die den Wiederbeschaffungswert übersteigen. Dass der Schädiger – vereinfacht formuliert – mehr bezahlen soll, als er kaputt gemacht hat, wird mit dem Integritätsinteresse des Geschädigten begründet, das jedenfalls bisher auch als Interesse am Erhalt des Fahrzeugs verstanden wurde. Und dieses Interesse, so die bisher wohl überwiegende Sicht der Rechtsprechung, darf nicht nur formuliert werden. Es muss auch in die Tat umgesetzt werden.
Neue Bewegung kam in die Frage mit dem Urteil des BGH vom 23.5.2006 - VI ZR 192/05 (www.bundesgerichtshof.de). In einer Fallgestaltung der fiktiven Abrechnung eines Falles mit Reparaturkosten unter dem Wiederbeschaffungswert, aber über dem Wiederbeschaffungsaufwand, hatte das Gericht eine sechsmonatige Weiternutzung als regelmäßigen Beleg einer ausreichenden Absicht postuliert. Ein längeres Zuwarten auf die abschließende Regulierung sei dem Geschädigten nicht zumutbar.
Daraus zogen viele Autoren den „Erst – recht – Schluss“ auf die 130 % - Konstellationen. Auch der Verfasser hat die Forderung nach einer sechsmonatigen Weiternutzung als Konkretisierung der bisher allgemeiner formulierten Weiternutzung gesehen. Denn, siehe oben, der Erhalt des Fahrzeuges für den Geschädigten wird ja gerade als Begründung für die Opfergrenze zu Lasten des Schädigers gesehen.
Abermals neue Nahrung erhielt die Diskussion durch das Urteil des BGH vom 06.12.2006 – VI ZR 77/06 (www.bundesgerichtshof.de): Wenn bei Reparaturkosten über dem Wiederbeschaffungsaufwand, aber unter dem Wiederbeschaffungswert das Fahrzeug vollständig repariert wird, gibt es kein Erfordernis der Weiternutzung. Die eintrittspflichtige Versicherung muss die Reparaturkosten erstatten, auch wenn der Geschädigte das Fahrzeug am Tag nach der Reparatur verkauft. Begründung: Nur bei Abrechnungen mit Fiktivcharakter drohe die Gefahr einer Bereicherung des Geschädigten, der nach Erhalt der fiktiven Reparaturkosten den „Restwert“ realisieren könne.
Aktuell gibt es eine nennenswerte Anzahl von Prozessen um die Frage der Weiternutzungspflicht nach einer 130 % - Reparatur. Einige Versicherungen sind nämlich dazu übergegangen, bei 130 % - Schäden zunächst nur den Wiederbeschaffungsaufwand zu erstatten und die Zahlung der – in der Regel nennenswerten – Integritätsspitze vom Nachweis der Weiternutzung über sechs Monate abhängig zu machen.
Weil der Geschädigte oft gerade deshalb sein Fahrzeug reparieren ließ, weil seine finanziellen Verhältnisse eng sind, wartet in der Praxis regelmäßig die Werkstatt auf das Geld.
Und darin ist wohl auch das Motiv der Versicherungen für diese Verhaltensweise zu suchen: Weil oft zuerst die Werkstatt auf die für sie und den Geschädigten attraktive Möglichkeit der – für die Versicherung im Vergleich zur Abrechnung des Wiederbeschaffungsaufwands sehr teuren – 130 % - Reparatur hinweist, soll diese Variante zum Liquiditätsentzug für die Werkstatt führen. Vielleicht empfiehlt insbesondere das Autohaus dann in Zukunft doch eher die Totalschadenabrechnung mit Ersatzanschaffung…
Vor diesem Hintergrund wird fleißig gestritten, und gerade jetzt kommen die Instanzurteile.
Die Überraschung: Gestützt auf die Entscheidung BGH VI ZR 77/06 haben bereits vier Gerichte verneint, dass der 130 % - Anspruch eine Weiternutzung voraussetzt. Sie argumentieren auch damit, dass nach der durchgeführten und zu bezahlenden Reparatur eine Bereicherungsgefahr nicht drohe. Das sind das Landgericht Amberg mit Urteil vom 21.06.2007 - 21 O 159/07, das Amtsgericht Gießen mit Urteil vom 22.05.2007 - 43 C 798/07 (VA 07, 138), das Amtsgericht Hanau mit Urteil vom 30.05.2007 -. 1 O 179/07 und das Landgericht Nürnberg – Fürth mit Urteil vom Urteil vom 08.05.2007 - 8 O 861/07 (SP 07/255 ff.).
Allerdings gibt es auch gegenläufige Entscheidungen. Die Frage darf also im Moment als offen gelten.
Jedoch ist nach Auffassung des Verfassers auch bei unterstellter Notwendigkeit einer sechsmonatigen Weiternutzung alles andere als sicher, dass das die eintrittspflichtige Versicherung berechtigt, die Regulierung um die dann sechs Monate (ab Unfalltag, nicht ab Reparaturende!) zu verzögern.
In der Entscheidung VI ZR 192/05 verwendet der BGH das Kriterium der Zumutbarkeit des Wartens. In der dortigen Konstellation wartete der Geschädigte auf Geld, das er – jedenfalls zur Schadenbeseitigung – nicht ausgegeben hatte. Darauf warten zu müssen hat eine andere Qualität, als auf den Schadenersatzteil zu warten, für den der Geschädigte nach der vollständigen Instandsetzung unter dem Inkassodruck der ausführenden Werkstatt steht. Nach durchgeführter Reparatur ist also die Zumutbarkeitsfrage anders zu beantworten. Insoweit wirft die Entscheidung VI ZR 77/06 mindestens ein Licht auf diese Konstellation.
Hinzu kommt: Der finanziell schwache Geschädigte wäre von seinem Recht auf eine 130 % - Reparatur schlicht abgeschnitten, wenn er keine Werkstatt fände, die quasi für ihn auf das Geld wartet. Dass auf diese Art und Weise ein wohlbegründetes Recht „wegorganisiert“ wird, ist nicht hinnehmbar.
Die hilfsweise Lösung, eine Weiternutzungspflicht unterstellt, lautet: Zahlung sofort (§ 271 BGB), wenn gewünscht unter Rückforderungsvorbehalt.
Das angesichts der finanziellen Schwäche des Geschädigten der Rückforderungsanspruch der Versicherung manchmal nicht durchsetzbar wäre, ist dabei hinzunehmen. Denn die umgekehrte Lösung träfe alle finanziell schwachen Geschädigten. Die Gefahr einer nicht realisierbaren Rückforderung hingegen reduziert sich auf die wenigen Fälle der nicht ausreichend langen Weiternutzung und darunter auf die Anzahl der Finanzschwachen.
Und letztlich: Wenn eine Lösung im Schadenersatzrecht in der Art des klassischen Dilemmas entweder dem Geschädigten oder aber dem Schädiger einen Nachteil unausweichlich zuweist, muss stets der Schädiger der Benachteiligte sein. Denn ohne seine Schaden stiftende Handlung wäre es zu diesem Dilemma nicht gekommen.
Quelle: Ass. jur. Joachim Otting, Hünxe - Beitrag vom 14.08.07