Nach Auffassung des Landgerichts Berlin könnte die Auslieferung eines italienischen Staatsbürgers an die USA wegen eines Verstoßes gegen das EU-Recht rechtswidrig gewesen sein, da der im Grundgesetz garantierte Auslieferungsschutz auch für ausländische EU-Bürger gelten müsse. Das Landgericht hat den Rechtsstreit ausgesetzt und dem EuGH hierzu Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Darum geht es
Dem Landgericht Berlin liegt eine Klage vor, mit der der Kläger, ein italienischer Staatsangehöriger, die Feststellung begehrt, dass ihm die Bundesrepublik Deutschland zum Schadensersatz verpflichtet sei. Der Kläger, gegen den ein Haftbefehl eines amerikanischen Gerichts vorgelegen hatte und der bei Interpol zur Fahndung ausgeschrieben gewesen war, war im Juni 2013 in der Bundesrepublik festgenommen und nachfolgend an die USA ausgeliefert worden.
Der klagende Italiener hatte sich am 17.06.2013 auf einem Flug von Nairobi nach Europa befunden, als die Maschine in Frankfurt/Main zwischenlandete. Der Kläger wurde aufgrund der Fahndungsausschreibung von der Bundespolizei festgenommen. Die USA ersuchten um die Auslieferung des Klägers, gegen den wegen des Verdachts von wettbewerbsbeschränkenden Submissions- und Preisabsprachen ermittelt wurde. Mit Beschluss vom 22.01.2014 erklärte das Oberlandesgericht Frankfurt/Main die Auslieferung des Klägers an die USA wegen der ihm zur Last gelegten Tatvorwürfe für zulässig.
Die dagegen vom Kläger beantragte einstweilige Anordnung vor dem Bundeverfassungsgericht blieb erfolglos (Beschl. v. 17.02.2014 - 2 BvQ 4/14): Nach Art. 16 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz dürfe – von den im zweiten Satz geregelten Ausnahmen abgesehen – kein Deutscher an das Ausland ausgeliefert werden.
Die Auffassung des OLG Frankfurt, dieses sog. Deutschenprivileg müsse nicht auf Unionsbürger angewandt werden, sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Bundesverfassungsgericht habe bereits entschieden, dass der Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten keine Materie sei, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts falle, so dass das europarechtliche Diskriminierungsverbot daher in diesem Zusammenhang nicht zu berücksichtigen sei.
Daraufhin erhob der Kläger Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland mit dem Ziel, festzustellen, dass ihm Schadensersatzansprüche zustünden. Zeitgleich bewilligte die Bundesrepublik die Auslieferung, die am 04.04.2014 vollzogen wurde. In dem nachfolgenden Strafverfahren in den USA bekannte sich der Kläger für schuldig. Er wurde zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe und zur Zahlung einer Geldstrafe von 50.000 US-Dollar verurteilt. Unter Anrechnung der in Deutschland verbrachten Haft wurde er in den USA am 14.04.2015 aus der Haft entlassen.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Das Landgericht Berlin neigt zu der Auffassung, dass EU-Bürger ebenso wie deutsche Staatsangehörige einen Anspruch auf Schutz ihrer Grundfreiheiten genießen würden und auch im Auslieferungsverkehr eines Mitgliedsstaates mit einem Drittstaat nicht schlechter gestellt werden dürften. Anderenfalls lägen Verstöße gegen das Diskriminierungsverbot und gegen das Recht auf Freizügigkeit vor. Da jedoch die Rechtslage nicht offenkundig sei, sei eine Vorlage an den EuGH zur Vorabentscheidung geboten (Vorlagefrage 1).
Die Zivilkammer habe auch Zweifel daran, dass die unterschiedliche Behandlung von eigenen Staatsangehörigen und anderen EU-Bürgern durch die Verpflichtung der Europäischen Union, die nationale Identität ihrer Mitgliedsstaaten zu achten, oder durch ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze gerechtfertigt sein könnte (Vorlagefrage 2).
Wenn man diesen Rechtsstandpunkten folge, hätte die Bundesrepublik nach Auffassung der Kammer keinen Gestaltungsspielraum gehabt und den Kläger nicht an die USA ausliefern dürfen. Für die deutschen Behörden wäre das der Auslieferung vorangegangene gerichtliche Verfahren nur dann verbindlich gewesen, wenn die Auslieferung für unzulässig erklärt worden wäre.
Da im Fall des Klägers die Auslieferung jedoch für zulässig erklärt worden sei, hätte das gerichtliche Verfahren die deutschen Behörden nicht gehindert, eine eigene rechtliche Prüfung vorzunehmen und aus rechtlichen Gründen von einer Auslieferung abzusehen. Bei dieser Fallgestaltung hafte die Bundesrepublik nach Auffassung der Kammer bereits bei einer einfachen Verletzung des Unionsrechts auf Schadensersatz, ohne dass der Verstoß offenkundig gewesen sein müsse (Vorlagefrage 3).
Schließlich habe das Bundesministerium der Justiz nach Auffassung der Kammer nicht auf die der Auslieferung vorangegangenen Entscheidungen der Gerichte, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts, vertrauen dürfen. Denn aufgrund der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union sei hinreichend bekannt, dass das europäische Recht einen weiten Anwendungsbereich habe. Die oberste Bundesbehörde hätte daher zwingend erkennen müssen, dass sie auch im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten das Diskriminierungsverbot hätte beachten müssen (Vorlagefrage 4).
Landgericht Berlin, Beschl. v. 18.03.2016 - 28 O 111/14
Quelle: Landgericht Berlin, Pressemitteilung v. 05.04.2016