Lehnt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Asylantrag zu Unrecht unter Berufung auf die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats als unzulässig ab, kann sich der Schutzsuchende jedenfalls dann auf die Zuständigkeit Deutschlands berufen, wenn die Aufnahmebereitschaft des anderen Mitgliedstaats nicht feststeht. Das hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden.
Darum geht es
Der Kläger, ein iranischer Staatsangehöriger, stellte Anfang 2015 in Deutschland einen Asylantrag. Ein Eurodac-Abgleich seiner Fingerabdrücke ergab, dass er zuvor bereits in Ungarn einen Asylantrag gestellt hatte. Nachdem Ungarn einer Wiederaufnahme des Klägers im Rahmen des Dublin-Verfahrens zugestimmt hatte, lehnte das Bundesamt den neuerlichen Antrag wegen anderweitiger Zuständigkeit als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung des Klägers nach Ungarn an. Eine Überstellung nach Ungarn erfolgte aber innerhalb der nach der Dublin III-VO einzuhaltenden sechsmonatigen Überstellungsfrist nicht.
Die Klage hatte beim Verwaltungsgericht keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat den Bescheid des Bundesamtes hingegen aufgehoben und dies damit begründet, dass die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens nach Ablauf der Überstellungsfrist während des gerichtlichen Verfahrens von Ungarn auf Deutschland übergegangen sei. Hierauf könne sich der Kläger auch berufen, da Ungarn inzwischen nicht mehr aufnahmebereit sei.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Das Bundesverwaltungsgericht hat die Entscheidung des Berufungsgerichts im Ergebnis bestätigt und die Revision der Beklagten zurückgewiesen. Nach Ablauf der Überstellungsfrist ist Deutschland zuständig geworden. Die Entscheidung des Bundesamtes ist daher rechtswidrig. Der Kläger kann sich unter den gegebenen Umständen auch auf die Zuständigkeit Deutschlands berufen.
Ob den Zuständigkeitsbestimmungen der hier einschlägigen Dublin III-VO - wie von der Generalanwältin in ihren Schlussanträgen in zwei beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängigen Vorabentscheidungsverfahren (C-63/15 und C-155/15) geltend gemacht - generell individualschützende Wirkung zukommt, konnte offen bleiben.
Denn der nach den Dublin-Bestimmungen zuständige Mitgliedstaat (hier: Deutschland) darf einen Schutzsuchenden jedenfalls dann nicht auf die Prüfung seines Asylantrags durch einen anderen Mitgliedstaat (hier: Ungarn) verweisen, wenn dessen Aufnahmebereitschaft nicht positiv feststeht. Dies ergibt sich als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal schon aus Sinn und Zweck der Dublin-Bestimmungen, durch die gerade die Situation eines „refugee in orbit“, für den sich kein Mitgliedstaat zuständig fühlt, vermieden werden soll.
Da das Berufungsgericht für das Revisionsgericht bindend festgestellt hat, dass Ungarn inzwischen nicht mehr aufnahmebereit ist, kann sich der Kläger hier auf die Zuständigkeit Deutschlands berufen, ohne dass es einer Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des EuGH über die anhängigen Vorabentscheidungsverfahren bedarf.
BVerwG, Urt. v. 27.04.2016 - 1 C 24.15
Quelle: BVerwG, Pressemitteilung v. 27.04.2016