Beteiligte eines Gerichtsverfahrens können nach einer Verzögerungsrüge die entstandenen Nachteile eines überlangen Verfahrens geltend machen. Der Regelbetrag kann im Fall der herausragenden Bedeutung eines verzögerten Pilotverfahrens angemessen erhöht werden. Das hat das OLG Braunschweig entschieden und dem Kläger im Streitfall eine Entschädigung von rund 6.500 € zugesprochen.
Darum geht es
Im Jahr 2011 hat der Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren Eingang in das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) gefunden.
Nach § 198 GVG ermöglicht den Beteiligten eines Gerichtsverfahrens, nach erhobener Verzögerungsrüge im Ausgangsverfahren in einem anschließenden Entschädigungsprozess die aus der Verzögerung entstandenen Nachteile geltend zu machen.
Hierbei hat das Entschädigungsgericht unter Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalls darüber zu befinden, ob die u.a. aus dem Rechtsstaatsgebot folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist.
In dem der Entschädigungsklage zugrundeliegenden Ausgangsverfahren hatten Anleger Ende 2011 den Kläger auf Schadensersatz verklagt. Das Verfahren war von der zuständigen Kammer als Pilotverfahren bestimmt worden, das vorrangig gefördert und als Grundlage für weitere gleichgelagerte Verfahren herangezogen werden sollte.
Im Jahr 2013 gab die zuständige Kammer ein Gutachten in Auftrag, welches der Sachverständige Ende Mai 2016 vorlegte. Erstmals im Oktober 2017 erhob der Kläger beim Landgericht Göttingen Verzögerungsrüge, die er im Januar 2019 wiederholte.
Knapp drei Jahre nach Vorlage des Gutachtens entschied die Kammer im März 2019 durch Beschluss, ein weiteres Ergänzungsgutachten einzuholen. Die Anleger nahmen ihre Klage im Oktober 2019 zurück, sodass das Ausgangsverfahren ohne Entscheidung in der Sache beendet wurde.
Der Kläger des beim Oberlandesgericht geführten Entschädigungsverfahrens verlangte 11.550 € von dem Land Niedersachsen als Entschädigung dafür, dass das Landgericht Göttingen das Verfahren nicht in angemessener Zeit verhandelt und abgeschlossen habe. Die Gesamtverfahrensdauer von sieben Jahren und elf Monaten sei unangemessen lang.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Das OLG Braunschweig hat dem Kläger eine Entschädigung von rund 6.500 € wegen unangemessener Dauer eines beim Landgericht Göttingen geführten Verfahrens im Komplex „Göttinger Gruppe“ zugesprochen.
Der Senat hat unter Abwägung sämtlicher Gesichtspunkte eine überlange Verfahrensdauer im Umfang von acht Monaten festgestellt.
Die Kammer des Landgerichts habe das Verfahren im Verfahrensabschnitt nach Vorlage des ersten Gutachtens bis zur Entscheidung über die Einholung eines Ergänzungsgutachtens auch unter Berücksichtigung einer angemessenen Bearbeitungs- und Bedenkzeit nicht ausreichend zügig gefördert. Weitere von dem Kläger gerügte Verzögerungen ergäben sich hingegen nicht.
Der Kläger ist für die hierdurch erlittenen immateriellen Schäden, insbesondere die nachteiligen psychologischen Auswirkungen, wie Besorgnis, Ungewissheit, aber auch Rufschädigungen, die sich aus der ungewissen Verfahrensdauer ergeben, zu entschädigen.
Bei der Entschädigung hat der Senat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, den Regelbetrag aufgrund der herausragenden Bedeutung des verzögerten Pilotverfahrens angemessen zu erhöhen.
Dabei waren die Auswirkungen auf die – vom verzögerten Pilotverfahren – abhängigen weiteren Ausgangsverfahren zu berücksichtigen. So habe es sich nicht um ein beliebiges Verfahren einer Serie gehandelt, sondern um ein Pilotverfahren mit wegweisender Bedeutung für rund 140 weitere Verfahren, die während dieser Zeit faktisch ruhten.
Der Senat hat die Revision zum BGH zugelassen.
OLG Braunschweig, Urt. v. 05.11.2021 - 4 EK 23/20
Quelle: OLG Braunschweig, Pressemitteilung v. 05.11.2021