Soweit eine gemeinsame Sorge nicht in Betracht kommt und zu erwarten ist, dass die Übertragung des Sorgerechts auf einen Elternteil dem Wohl des Kindes am besten entspricht, kann eine solche Sorgerechtsübertragung auch ohne Zustimmung des anderen Elternteils erfolgen. Das hat das OLG Brandenburg entschieden. Das Gericht zog im Streitfall dabei auch einen Gutachter hinzu.
Sachverhalt
Die nicht miteinander verheirateten Eltern des im August 2007 geborenen Kindes lebten bis zum Auszug des die Vaterschaft anerkennenden Vaters in 2008 zusammen. Im November 2013 zog die Mutter mit dem Kind ohne vorherige Ankündigung in den Iran. Ohne mündliche Verhandlung wurde der Mutter per einstweiliger Anordnung die elterliche Sorge entzogen und dem Jugendamt übertragen.
Im Dezember 2014 kehrte sie mit dem Kind zurück und lebte bis Anfang April in B. Als die Mutter im April 2014 mit dem Kind zu einem Gespräch beim Jugendamt erschien, veranlasste dieses unmittelbar die Inobhutnahme und Fremdunterbringung des Kindes. Im Oktober 2015 begehrte die Mutter die Rückkehr des Kindes zu sich.
Zur Frage der Erziehungsgeeignetheit der Mutter wurde die Stellungnahme eines Sachverständigen eingeholt. In Bestätigung des Beschlusses vom 19.03.2014 hat das Gericht der Mutter das Sorgerecht entzogen und in Abänderung dem Vater übertragen. Seit Dezember 2017 lebt das Kind nach kurzem Aufenthalt beim Vater in einer betreuten Wohnung in Schulnähe.
Gegen den Beschluss legt die Mutter Beschwerde ein, da der Sorgerechtsentzug allein auf der Vermutung beruhe, dem Kind könne es nicht gutgehen. Der Vater beantragt die Zurückweisung der Beschwerde. Die Beschwerde ist unbegründet.
Wesentliche Aussagen der Entscheidung
Leben Eltern nicht nur vorübergehend getrennt und obliegt der Mutter die elterliche Sorge, kann der Vater die Übertragung der elterlichen Sorge beantragen. Ohne Zustimmung des anderen Elternteils ist dem Antrag stattzugeben, soweit gemeinsame Sorge nicht in Betracht kommt und zu erwarten ist, dass die Übertragung auf den Vater dem Wohl des Kindes am besten entspricht (§ 1671 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1, 2 BGB).
Zwischen den Eltern besteht ein anhaltender und tiefgreifender Konflikt, was sich auch in den seit 2012 laufenden Gerichtsverfahren bezüglich Umgang und Sorge widerspiegelt. Eine auf das gemeinsame Kind bezogene aussichtsreiche Kommunikation findet bereits seit Jahren nicht mehr statt. Eine gemeinsame Sorge zum Wohle des Kindes ist ohne dessen Verwicklung in den Elternkonflikt kaum möglich.
Selbst das Kind bewertet die Beziehung seiner Eltern mangels gemeinsamem Handeln und gemeinsamer Sorge als hochproblematisch, was insgesamt einen gravierenden Risikofaktor für dessen Entwicklung darstellt. Die Mutter verfügt über keinen festen Wohnsitz und über keine tatsächliche Betreuungsmöglichkeit, ferner ist die Frage nach Finanzierung ihres Lebensunterhalts ungeklärt. Im Februar 2018 wirkt sie sehr ungepflegt, was auf ihre Unfähigkeit hindeutet, alsbald in geordnete Lebensverhältnisse zurückzukehren.
Gerade infolge der mangelhaften Sicherstellung ihrer eigenen Grundversorgung kann die gewissenhafte Übernahme der zusätzlichen Sorge für das Kind nicht unterstellt werden. Der Vater ist demgegenüber uneingeschränkt zur Sorge in der Lage, da er in geordneten Verhältnissen lebt und seiner Tochter in einem Haus ein eigenes Zimmer zur Verfügung stellen kann. Für ihre Betreuung hat er seine berufliche Tätigkeit vorläufig aufgegeben, strebt jedoch nach Klärung der Kinderbetreuung dessen Wiederaufnahme an. Das Gericht zweifelt nicht an seiner Erziehungsfähigkeit.
Die Bindung zur Mutter beschreibt der Gutachter als unsicher und ambivalent; aus Angst vor Verlust und Liebesentzug fühle sich das Kind der Mutter verpflichtet. Zum Vater besteht indessen nachweislich eine tragfähige und belastbare Beziehung. Das Kind ist wegen seiner Empfindung, die Liebe zu beiden Elternteilen nicht angst- und konfliktfrei leben zu können, hochgradig belastet.
Nach dem Aufenthalt in einer betreuten Wohngruppe wollte es wegen gesundheitlicher Probleme bedingt durch Heimweh aus eigenem Antrieb zum Vater zurückkehren. Auch der Kontinuitätsgrundsatz i.S.d. Einheitlichkeit, Gleichmäßigkeit und Stabilität der Erziehungsverhältnisse spricht für die Übertragung der elterlichen Sorge auf den Vater.
Folgerungen aus der Entscheidung
Bei der doppelten Kindeswohlprüfung muss anhand der Lebenssituation der getrenntlebenden Eltern zunächst die Möglichkeit der gemeinsamen Sorge und bei deren Ablehnung die vorrangige Eignung des Antragstellers geprüft werden. Bei sorgfältiger Prüfung sind alle Pro- und Kontrapunkte der gemeinsamen Sorge gegeneinander abzuwägen.
Für eine gemeinsame Wahrnehmung der Elternverantwortung müssen die Eltern jedoch mindestens in wesentlichen Bereichen der elterlichen Sorge einig sein und insgesamt muss eine tragfähige soziale Beziehung zwischen ihnen bestehen. Unabhängig von Rangfolge und Wertigkeit sind diverse Aspekte zu berücksichtigen: Kontinuität der kindlichen Entwicklung, Verbundenheit zu beiden Elternteilen, der Kindeswille unter Beachtung von Alter und Reife sowie Eignung sowie Bereitschaft und Möglichkeit der Eltern zur Übernahme der für das Kindeswohl maßgeblichen Erziehung und Betreuung.
Dabei kann je nach Sachlage der ein oder andere Aspekt mehr oder weniger bedeutsam sein. Ist jedoch die kommunikative Ebene der Eltern gravierend und tiefgreifend beeinträchtigt und somit gemeinschaftliche Entscheidungen zulasten des Kindeswohls nahezu aussichtslos, ist die Anordnung der gemeinsamen elterlichen Sorge ausgeschlossen.
Praxishinweis
Wie die Aufzählung der möglichen zu berücksichtigenden Gesichtspunkte zeigt, wird das familiäre oder auch gerade nicht familiäre Zusammenspiel der Beteiligten durchleuchtet. Das Gericht hat die zielgerichtete Aufgabe, den vorliegenden Fall umfassend zu analysieren und dabei mit dem Kindeswohl im Blick die bestmögliche Wahl für das Kind zu treffen. Zu kritischen Fragestellungen wird zur Bewertung auch die fachkundige Hilfe eines Sachverständigen herangezogen, der die Analyse der jeweiligen Fragestellungen begleitet.
Das Gericht verschafft sich durch Anhörung der Beteiligten oftmals zusätzlich ein persönliches Bild von der tatsächlichen Situation. Nach Auswertung und Abwägung der gesammelten Details zieht es dann die für den jeweiligen Einzelfall erforderlichen Rückschlüsse und fällt die der Situation angepasste Entscheidung. Aufgrund seiner Erfahrungen in Kindschaftssachen ist dem Gericht eine unstreitige Versiertheit bei der Beurteilung des Kindeswohls zu unterstellen.
OLG Brandenburg, Beschl. v. 19.03.2018 – 10 UF 88/16
Quelle: Ass. jur. Nicole Seier