Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, mit der sich eine Mutter und ihre Tochter, bei der Lernförderbedarf besteht, gegen den teilweisen Entzug des Sorgerechts gewehrt hatten. Demnach waren die fachgerichtlichen Bewertungen zu einer Kindeswohlgefährdung (v.a. aus schulischer Überforderung) verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Darum geht es
Bei der beschwerdeführenden Tochter wurde erstmals während ihrer Grundschulzeit aufgrund entsprechender Testungen ein sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen festgestellt.
Spätere Verfahren zur Feststellung eines Förderbedarfs gelangten zu dem gleichen Ergebnis, wobei in den verschiedenen Testverfahren ein IQ zwischen 63 und 74 ermittelt wurde. Gegen den Rat der Fachkräfte meldete die Mutter ihre Tochter zunächst auf einem Gymnasium an.
Dort kam es jedoch nach kurzer Zeit zu erheblichen Konflikten, aufgrund derer die Tochter als Ordnungsmaßnahme wegen Übergriffen auf Mitschüler dauerhaft von dieser Schule ausgeschlossen wurde.
Anschließend besuchte sie eine nach dem maßgeblichen Landesrecht so bezeichnete Realschule Plus, an der sie täglich drei Stunden beschult wurde. Auch hier kam es zu erheblichen Konflikten mit Lehrern und Mitschülern.
Auf Initiative des Jugendamtes wurde ein Sorgerechtsverfahren eingeleitet, in dem das Familiengericht im Januar 2020 der Mutter unter anderem das Recht zur Regelung schulischer Belange ihrer Tochter entzog.
Die dagegen gerichtete Beschwerde der Mutter wies das Oberlandesgericht zurück. Das Familiengericht habe zu Recht angenommen, dass das körperliche und seelische Wohl der Tochter aufgrund eines Versagens ihrer Mutter nachhaltig gefährdet sei.
Weniger eingriffsintensive Maßnahmen als der Teilentzug des Sorgerechts seien nicht geeignet, die Gefahr für das Kindeswohl abzuwenden.
Die Mutter übe trotz stetiger gegenteiliger Ratschläge aller Fachkräfte einen derart enormen Leistungsdruck auf ihre Tochter aus, dass diese permanent überfordert, traurig, verzweifelt und ohne jegliche Lebenslust sei; sie habe bereits Suizidgedanken geäußert.
Mitunter komme es auch zu körperlichen Übergriffen der Mutter auf ihre Tochter. Bei schlechten Noten äußere die Tochter in der Schule Ängste vor ihrer Mutter, etwa vor Schimpfen oder auch Schlägen. An der Lage der Tochter habe sich gegenüber der Situation in einem bereits im Jahr 2018 geführten einstweiligen Anordnungsverfahrens zum Sorgerecht, nichts geändert.
Die Mutter habe sich nach der langjährigen Erfahrung der beteiligten Fachkräfte nicht bereit oder in der Lage gezeigt, eigene Vorstellungen zu überdenken oder andere als die eigene Sichtweise anzuerkennen. Die angebotenen Hilfestellungen habe die Mutter allesamt abgelehnt oder abgebrochen.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Eine Verletzung des Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) der Mutter ist demnach anhand der Begründung der Verfassungsbeschwerde und der dazu vorgelegten Unterlagen nicht erkennbar.
Jedenfalls nach dem zurückgenommenen verfassungsrechtlichen Maßstab für die Prüfung von Sorgerechtsentscheidungen ohne Trennung von Eltern und Kind lassen die Begründung der Verfassungsbeschwerde und die damit vorgelegten Unterlagen nicht erkennen, dass der teilweise Entzug des Sorgerechts der Mutter den materiellen und verfahrensrechtlichen Anforderungen daran nicht gerecht wird.
Die Würdigung des Oberlandesgerichts, dass aufgrund des von ihm festgestellten Sachverhalts die fachrechtlich vorausgesetzte Kindeswohlgefährdung im Sinne von § 1666 Abs. 1 BGB vorliegt, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Es leitet diese Kindeswohlgefährdung nicht aus vorhandenen Einschränkungen der Tochter her. Vielmehr sieht das Oberlandesgericht die Ursachen dafür im Verhalten der Mutter, die ihrer Tochter die benötigte Unterstützung und Förderung nicht zu teil werden lasse.
Zudem setze sie ihre Tochter durch überhöhte Erwartungen von Leistungen, die diese nicht erbringen könne, unter einen permanenten Leistungsdruck, der eine dauernde Belastung des Kindes bewirke. Sie stelle Anforderungen an ihre Tochter, die diese permanent überforderten.
Sie erwarte die Erbringung schulischer Leistungen, zu denen die Tochter auch mit Unterstützung nicht in der Lage sei. Trotzdem übe die Mutter den Feststellungen nach abends stundenlang mit ihrer Tochter und reagiere auf schlechte Noten mit verbalen und auch körperlichen Übergriffen. Diese Belastung der Tochter finde in aggressivem Verhalten in der Schule, Traurigkeit, Verzweiflung und fehlender Lebenslust bis hin zu Suizidgedanken ihren Ausdruck.
Es liegt innerhalb der den Fachgerichten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zustehenden Wertung, das festgestellte Verhalten der Mutter als einen außergewöhnlichen und aus erzieherischen Gesichtspunkten nicht mehr angemessenen Leistungsdruck einzuordnen.
Der aus den genannten Umständen gezogene Schluss, dass durch die so entstandene Überforderung und die erhebliche emotionale Belastung das Wohl der Tochter, insbesondere ihre seelische Gesundheit, gefährdet ist, verkennt weder die Bedeutung des Elternrechts noch den Umfang seines Schutzbereichs.
Die so begründete Annahme einer Kindeswohlgefährdung im Sinne von § 1666 Abs. 1 BGB verletzt das Recht der Mutter aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG selbst dann nicht, wenn bei der Bedeutung des Elternrechts und staatlichen Eingriffen ein möglicher individueller Anspruch der Tochter auf eine inklusive Beschulung zu berücksichtigen wäre.
Ob ein solcher Anspruch nach Art. 24 BRK bestehen kann, bedarf keiner Entscheidung. Jedenfalls kann aus Art. 24 BRK nicht der Schluss gezogen werden, das Familiengericht dürfe bei einer Sorgerechtsentscheidung nach § 1666 BGB schwere Belastungen des Kindes mit Behinderung ungeachtet der Umstände des Einzelfalls dann nicht berücksichtigen, wenn diese Belastungen damit verbunden sind, wie die Eltern die elterliche Sorge in Schulangelegenheiten ihres Kindes ausüben und was sie von ihrem Kind und von der Schule im Rahmen inklusiver Beschulung verlangen.
Weder gebietet das Völkerrecht ein derartiges Verständnis des Familienrechts noch wäre es so mit Verfassungsrecht vereinbar. Völkerrechtlich würde damit Art. 7 Abs. 2 BRK nicht hinreichend Rechnung getragen, der bestimmt, dass bei allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderungen betreffen, das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt ist, der vorrangig berücksichtigt werden muss.
Verfassungsrechtlich wäre eine an einer pauschalisierenden Interpretation von Art. 24 BRK orientierte Auslegung des einzelfallbezogen anzuwendenden § 1666 BGB mit dem Anspruch des Kindes auf Schutz durch den Staat aus Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG im Falle einer konkreten Gefährdung seiner Gesundheit oder Persönlichkeitsentwicklung nicht vereinbar.
Dabei kommt es nicht darauf an, ob und inwieweit allein aufgrund der Besonderheiten der Behinderung eine die inklusive Beschulung ausschließende Kindeswohlgefährdung angenommen werden kann.
Vorliegend resultiert nach der nicht zu beanstandenden Beurteilung des Oberlandesgerichts die Kindeswohlgefährdung gerade nicht vornehmlich aus den Beeinträchtigungen der Tochter, sondern wesentlich aus dem Verhalten der Mutter.
Sie bewirkt im Ergebnis, dass notwendige Unterstützungen und Förderungen ihrer Tochter und ein erforderlicher zieldifferenter Unterricht nicht erfolgen, so dass die Tochter von der inklusiven Beschulung im Ergebnis nicht profitieren kann, weil diese unter den im Ausgangsverfahren festgestellten Umständen für sie eine dauernde Belastung darstellt.
Es kann dahinstehen, ob in dem Entzug von Teilen des Sorgerechts der Mutter mittelbar eine Benachteiligung ihrer Tochter wegen einer Behinderung (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) liegt. Selbst wenn die teilweise Entziehung des Sorgerechts deshalb strengeren Anforderungen unterliegen sollte, könnte ein Verfassungsverstoß hier nicht festgestellt werden.
Wäre für die Tochter eine Benachteiligung wegen einer Behinderung zu bejahen, wäre diese rechtliche Schlechterstellung nach der Wertung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG lediglich zulässig, wenn zwingende Gründe eine solche rechtfertigen.
Die Rechtfertigung einer Benachteiligung entgegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG unterliegt damit einem strengen Maßstab. Sie kommt nur im Wege einer Abwägung mit kollidierendem Verfassungsrecht und auf der Grundlage einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung in Betracht. Die Ungleichbehandlung muss insoweit zum Schutz eines anderen, mindestens gleichwertigen Verfassungsguts geeignet, erforderlich und angemessen sein.
Es ist jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen, dass diese Wertung den Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG in der hier zu beurteilenden Konstellation in der Weise verstärken kann, dass eine strenge verfassungsrechtliche Prüfung vorzunehmen ist.
Auch einzelne Auslegungsfehler sowie deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts könnten dann beachtlich sein.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts hielte auch einer solchen strengen verfassungsrechtlichen Prüfung in verfahrensrechtlicher und materiellrechtlicher Hinsicht stand.
Die Annahme einer Kindeswohlgefährdung durch die Fachgerichte aufgrund des von ihnen festgestellten Sachverhalts lässt keine beachtlichen Auslegungsfehler erkennen. Die Fachgerichte haben die Ursachen der Kindeswohlgefährdung hinreichend aufgeklärt.
Insbesondere waren dafür keine weitergehenden Ermittlungen zu der Frage geboten, ob die Schule oder das Land einer Verpflichtung zur Umsetzung eines Rechts auf inklusive Bildung aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und aus Art. 24 BRK durch Schaffung erforderlicher struktureller Rahmenbedingungen hinreichend nachgekommen ist.
Denn nach der beanstandungsfreien Würdigung des Oberlandesgerichts liegen die Ursachen der Kindeswohlgefährdung vor allem in dem Verhalten der Mutter. Dieses bewirkt letztlich, dass notwendige Unterstützungen und Förderungen ihrer Tochter und ein erforderlicher zieldifferenter Unterricht nicht erfolgen können.
Die Tochter kann im Ergebnis von der inklusiven Beschulung nicht profitieren, weil diese für sie nach den getroffenen Feststellungen angesichts des Verhaltens ihrer Mutter mit einer dauerhaften erheblichen Belastung verbunden ist.
Vorliegend waren die Fachgerichte daher lediglich gehalten, die aktuell möglichen oder in angemessener Zeit verfügbaren Angebote der Schule zu prüfen und zu klären, ob deren Inanspruchnahme zur Abwehr der Kindeswohlgefährdung möglich ist.
Hierzu haben sie in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass die Mutter sämtliche Förderangebote abgelehnt und die notwendige Zusammenarbeit nicht geleistet hat, so dass eine hinreichende Förderung an der Regelschule nicht möglich ist. Unterstützungsmaßnahmen, die dennoch erfolgversprechend - ohne oder trotz Widerspruch der Mutter - in der Regelschule hätten eingesetzt und in angemessener Zeit hätten eingerichtet werden können, sind nicht ersichtlich.
Insbesondere benennen auch die Beschwerdeführerinnen keine konkreten Maßnahmen, deren Inanspruchnahme die Fachgerichte zu Unrecht nicht in Betracht gezogen hätten.
Der erfolgte Entzug von Teilen des Sorgerechts würde auch strengeren materiellrechtlichen Anforderungen genügen. Er findet seine verfassungsrechtliche Grundlage in dem Anspruch eines Kindes aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG auf Schutz des Staates und dessen damit korrespondierender Schutzpflicht.
Als Erfüllung des Schutzanspruchs erweist sich der Sorgerechtsentzug in seinem gesamten Umfang selbst nach Maßgabe der erwogenen strengen Anforderungen als verhältnismäßig. Der Eingriff ist insbesondere auch erforderlich.
Insofern kommt vor allem nicht in Betracht, allein den Entzug des Rechts zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen und zur Stellung von Anträgen nach den Sozialgesetzbüchern als milderes, in gleicher Weise geeignetes Mittel anzusehen.
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, vor jedem Sorgerechtsentzug wegen Kindeswohlgefährdung zu prüfen, ob der Kindeswohlgefährdung nicht auf andere Weise, insbesondere durch helfende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens gerichtete Maßnahmen, begegnet werden kann.
Im Fall des Entzugs des Rechts der Schulwahl für ein Kind erfordert dies die Prüfung, ob nicht weniger einschneidende Jugendhilfemaßnahmen, schulische Angebote oder andere Hilfen verfügbar sind, die eine Abwehr der festgestellten Kindeswohlgefährdung ermöglichen.
Im Falle eines Kindes mit Behinderung führt die Berücksichtigung von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dazu, dass insbesondere auf Hilfen zur Integration oder Inklusion behinderter Menschen zu achten ist. Dem trägt die Entscheidung des Oberlandesgerichts Rechnung.
Es hat eine Kindeswohlgefährdung durch die Überforderung der Tochter an der Regelschule festgestellt. Diese Überforderung wird dadurch, dass ihre Mutter die vorhandenen Hilfsangebote - insbesondere einen zieldifferenten Unterricht - ablehnt, verstärkt.
Angesichts der festgestellten schwerwiegenden, vor allem aus dem Verhalten der Mutter folgenden Beeinträchtigungen des Kindeswohls ihrer Tochter hat das Oberlandesgericht den Entzug von Teilen des Sorgerechts ohne Verstoß gegen Verfassungsrecht als angemessen bewertet.
BVerfG, Beschl. v. 14.09.2021 - 1 BvR 1525/20
Quelle: BVerfG, Pressemitteilung v. 14.10.2021