Trotz Gutachtenmängeln kann eine Entscheidung über den Sorgerechtsentzug Bestand haben, wenn die Mängel thematisiert werden, die fachliche Qualifikation des Sachverständigen nachvollziehbar ist und die Verwertbarkeit der Aussagen zur Entscheidungsfindung erläutert wird. Das ergibt sich aus einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu einer erfolglosen Verfassungsbeschwerde.
Sachverhalt
Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Entziehung der elterlichen Sorge für ihre drei minderjährigen, mittlerweile in einer Pflegefamilie untergebrachten Kinder. Bei den beiden ältesten Kindern übt sie die elterliche Sorge gemeinschaftlich mit dem jeweiligen Vater aus, bei dem jüngsten Kind alleine. Sie hat zahlreiche ambulante und stationäre psychiatrische Behandlungen durchlaufen. Aufgrund starker Verhaltensauffälligkeiten des ältesten Kindes in der Schule wurde für ihn als ambulante Hilfe der tägliche Besuch einer Tagesgruppe organisiert.
Die im Haushalt installierte Familienhelferin beschreibt die Mutter in einem orientierungslosen und verwirrten Zustand. Den Kindern fehle aufgrund extrem gegensätzlicher Erziehungsstile von Mutter und Großeltern jegliche Stabilität. Wegen der kindeswohlgefährdenden Situation wurde ein Sachverständigengutachten eingeholt, das die Mutter als erheblich in ihrer Erziehungsfähigkeit eingeschränkt beschreibt. Im Oktober 2016 wurde ihr die elterliche Sorge für alle Kinder entzogen. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt sie die Verletzung ihres Elternrechts. Mangels vorliegender Voraussetzungen des § 93 a Abs. 3 BVerfGG wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Wesentliche Aussagen der Entscheidung
Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg, da die angegriffene Entscheidung die Beschwerdeführerin nicht in ihrem Elternrecht aus Art 6 Abs.2 S.1 GG verletzt.
Art 6 Abs. 3 GG erlaubt den Eingriff, wenn das elterliche Fehlverhalten zu einer nachhaltigen Gefährdung des Kindeswohls führt, also bei ihm bereits ein Schaden eingetreten ist oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Wegen der besonderen Eingriffsschwere unterliegt dies einer strengen verfassungsgerichtlichen Überprüfung, die sich auf einzelne Auslegungsfehler sowie auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts erstreckt.
Die Bezugnahme auf ein mit Mängeln behaftetes Sachverständigengutachten führt jedoch dann nicht zur Verfassungswidrigkeit der gerichtlichen Entscheidung, wenn die Mängel in der Entscheidung thematisiert, die fachliche Qualifikation des Sachverständigen näher erklärt und nachvollziehbar darlegt werden, inwiefern Aussagen aus dem Gutachten gleichwohl verwertbar sind und zur Entscheidungsfindung beitragen können. Das Gericht weist selbst darauf hin, dass das Sachverständigengutachten den an ein psychiatrisches Gutachten zu knüpfenden Anforderungen nicht vollständig entspricht. Dennoch belegt es – ausgehend von dessen Ausführungen – die Diagnose des Sachverständigen mit Aussagen und Gesprächen mit der Beschwerdeführerin sowie einem mit ihr durchgeführten Interviewverfahren.
Angesichts ihres seit Jahren von beteiligten Fachkräften beobachteten Verhaltens der eigenen Isolation und während der gerichtlichen Anhörung kann das OLG diese Einschätzung nachvollziehen und hält sie für verwertbar. Durch ihre nachgewiesene fachliche Qualifikation und berufliche Erfahrung entspricht die Sachverständige den Anforderungen des neu gefassten § 163 Abs. 1 FamFG, sodass die Bezugnahme auf das Gutachten hier nicht an einer mangelnden Qualifikation der Sachverständigen scheitert. Darüber hinaus stützen die Fachgerichte ihre Entscheidung auf eine hiervon unabhängige Begründung zum Kindeswohl in Form von konkreten Ereignissen und Entwicklungen.
Das OLG differenziert sogar noch sorgfältig zwischen Anhaltspunkten für eine Schädigung beziehungsweise Gefährdung des Wohls pro Kind und Hinweisen auf Ursachen in der Lebenssituation und Verhaltensweisen der Beschwerdeführerin. Die Beschwerdeführerin befindet sich selbstbestimmt mit ihren Kindern in sozialer Isolation, ist nicht in der Lage, emotionale Nähe zu ihren Kindern aufzubauen, insgesamt ist ihr Erziehungsverhalten instabil und überfordert sie organisatorisch, so das OLG. Diese Einschätzungen sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden und die Entscheidung genügt auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Folgerungen aus der Entscheidung
Das OLG entschied, dass ein Sachverständigengutachten, das für sich genommen keine verlässliche Grundlage für die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung bietet, nicht unausweichlich zur Verfassungswidrigkeit der gerichtlichen Entscheidung führt.
Selbst bei völliger Unverwertbarkeit einer Sachverständigenbegutachtung hält eine Entscheidung verfassungsgerichtlicher Kontrolle stand, wenn sich das Vorliegen einer die Trennung von Kind und Eltern rechtfertigenden Kindeswohlgefährdung aus den Entscheidungsgründen hinreichend nachvollziehbar ergibt - auch ohne Einbeziehung der sachverständigen Aussagen.
Die Verwertbarkeit scheitert auch nicht an mangelnder Qualifikation des Sachverständigen, wenn nachvollziehbar dargelegt wird, dass die Sachverständige laut entsprechender Ausbildung und mit Erfahrungen im entsprechenden Bereich den Anforderungen des neu gefassten § 163 Abs.1 FamFG entspricht.
Darüber hinaus müssen die Fachgerichte ihre Entscheidung auf eine vom Sachverständigengutachten unabhängige eigene Begründung stützen, in der sie – durchaus unter Bezugnahme auf die Feststellungen des Sachverständigen und beteiligter Fachkräfte - ausführlich auseinandersetzen müssen, auf welchen Ereignissen und Entwicklungen ihre Einschätzung zum Kindeswohl im vorliegenden Einzelfall beruh
Praxishinweis
Die gerichtliche Verwertung eines mit Fehlern behafteten Sachverständigengutachtens kann nicht moniert werden, wenn zum einen die vorhandenen Mängel und die fachliche Qualifikation des Sachverständigen verständlich darlegt werden sowie zum anderen erläutert wird, inwiefern die im Gutachten getroffenen Aussagen gleichwohl verwertbar sind und zur Entscheidungsfindung beitragen.
BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 27.04.2017 - 1 BvR 563/17
Quelle: Ass. jur. Nicole Seier