Ein Landkreis ist als Träger eines Jugendamts weder berechtigt, die Rechte eines Kindes im Wege einer Prozessstandschaft geltend zu machen, noch kann er sich insoweit auf die Verletzung eigener Rechte stützen. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Der Landkreis hatte Verfassungsbeschwerde gegen familienrechtliche Beschlüsse in einem Sorgerechtsverfahren eingelegt.
Darum geht es
Im Zuständigkeitsbereich des Landkreises lebt das betroffene, 2007 geborene Mädchen mit seiner allein sorgeberechtigten Mutter. Mit ihrer Tochter zog die Mutter im Jahr 2016 in den Haushalt ihres Lebensgefährten, der im Jahr zuvor wegen Sexualstraftaten zu Lasten von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe, bei Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung, verurteilt worden war.
Nachdem das Jugendamt von diesen Umständen erfahren hatte, regte es familiengerichtliche Maßnahmen zum Schutz des Kindes an. Im Rahmen des familiengerichtlichen Verfahrens entzog das Oberlandesgericht zunächst der Mutter unter anderem das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre Tochter.
Auf die zugelassene Rechtsbeschwerde der Mutter hob der BGH diese Entscheidung auf und verwies die Sache an das Oberlandesgericht zurück. Nach weiterer Sachverhaltsaufklärung entzog dieses der Mutter das Sorgerecht nicht, sondern gab ihr näher bezeichnete Maßnahmen auf, unter anderem einen Antrag auf Bewilligung von Hilfe zur Erziehung in Form der aufsuchenden systemischen Familienberatung.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Verfassungsbeschwerde, mit der der Landkreis vor allem auch eine Verletzung des Anspruchs des betroffenen Kindes auf Schutz durch den Staat aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 und 2 GG rügt.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde des Landkreises nicht zur Entscheidung angenommen.
Der Beschwerdeführer ist nicht berechtigt, Rechte des Kindes im Wege der Prozessstandschaft geltend zu machen. Die Voraussetzungen einer lediglich ausnahmsweise zulässigen Prozessstandschaft sind vorliegend nicht gegeben.
Auf die Verletzung des Anspruchs des Kindes auf Schutz durch den Staat (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG) kann sich der Beschwerdeführer daher mit der Verfassungsbeschwerde nicht berufen.
Eine ausdrückliche Regelung über die Prozessstandschaft im Verfahren der Verfassungsbeschwerde besteht nicht. Grundsätzlich sind mit der Verfassungsbeschwerde eigene Rechte in eigenem Namen geltend zu machen; eine Prozessstandschaft ist daher regelmäßig unzulässig.
Allerdings erkennt das Bundesverfassungsgericht in Ausnahmefällen - wie beispielsweise bei Parteien kraft Amtes - die Berufung auf fremde Rechte im eigenen Namen im Verfassungsbeschwerdeverfahren an.
Dies gilt insbesondere dann, wenn ansonsten die Gefahr bestünde, dass die betroffenen Rechte überhaupt nicht mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden könnten.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt aus der Schutzpflicht des Staates gegenüber dem Kind aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 und Art. 2 Abs. 1 GG, dass zur Vertretung eines Kindes normative Regelungen geschaffen werden müssen, die eine hinreichende Berücksichtigung der grundrechtlichen Stellung des betroffenen Kindes auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren garantieren.
Der Zugang zum Bundesverfassungsgericht darf dem Kind nicht versagt werden, wenn sein gesetzlicher Vertreter zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde nicht willens oder nicht in der Lage ist.
Dem Kind muss daher ein Ergänzungspfleger (§ 1909 Abs. 1 Satz 1 BGB) für das Verfahren der Verfassungsbeschwerde bestellt werden, wenn die an sich vertretungsberechtigten Eltern wegen eines Interessenwiderstreits an der Vertretung des Kindes gehindert sind, solange der Gesetzgeber nicht in anderer Weise für eine hinreichende Berücksichtigung der Kin-desinteressen im Verfassungsbeschwerdeverfahren sorgt.
In der Folge hat der Gesetzgeber auch im Hinblick auf diese Rechtsprechung den Verfahrenspfleger für das familienrechtliche Verfahren eingeführt, dessen Aufgaben nach Einführung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit nunmehr der Verfahrensbeistand (§ 158 FamFG) wahrnimmt.
Das Bundesverfassungsgericht erkennt die Prozessstandschaft des Verfahrensbeistands im Interesse des Kindes im Verfahren der Verfassungsbeschwerde an, weil die Interessenlage und rechtliche Ausgestaltung derjenigen eines Verfahrenspflegers in betreuungsgerichtlichen Verfahren entsprechen, für den ebenfalls die Prozessstandschaft im verfassungsgerichtlichen Verfahren anerkannt ist.
Nach diesen Maßstäben ist es bei den hier vorliegenden konkreten Umständen nicht geboten, die Prozessstandschaft des Beschwerdeführers für das betroffene Kind ausnahmsweise zuzulassen.
Es besteht weder die Gefahr, dass die Rechte des Kindes sonst nicht im Verfahren der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden könnten, noch ist der Beschwerdeführer hier in einer mit nicht sorgeberechtigten Elternteilen vergleichbaren Position, aufgrund derer die Geltendmachung der Rechte des Kindes durch ihn ausnahmsweise für erforderlich gehalten wurde.
Die Rechte des Kindes können im konkreten Fall ohne Prozessstandschaft des Beschwerdeführers im Verfahren der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden, denn es besteht rechtlich die Möglichkeit sowohl der Bestellung eines Ergänzungspflegers als auch der Geltendmachung der Rechte des Kindes durch die bestellte Verfahrensbeiständin.
Ein Bedarf für eine zusätzliche Prozessstandschaft durch den Beschwerdeführer besteht daher nicht. Das Kind kann im hiesigen Verfahren der Verfassungsbeschwerde durch einen Ergänzungspfleger (§ 1909 Abs. 1 Satz 1 BGB) vertreten werden. Gesetzliche Vertreterin des Kindes ist hier grundsätzlich die allein sorgeberechtigte Mutter.
Bei Einlegung einer Verfassungsbeschwerde mit dem Ziel, einen Verfassungsverstoß durch die Unterlassung des Sorgerechtsentzugs geltend zu machen, läge offensichtlich ein Interessenwiderstreit vor. Deshalb wäre die Vertretung des Kindes durch einen Ergänzungspfleger erforderlich, aber auch möglich.
Der Bestellung eines Ergänzungspflegers grundsätzlich entgegenstehende Hindernisse sind nicht ersichtlich. Als Rechtsträger des Jugendamts hätte es dem Beschwerdeführer offen gestanden, bei dem zuständigen Familiengericht die Einrichtung einer solchen Ergänzungspflegschaft für das Kind zur Durchführung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens anzuregen.
Darüber hinaus bestand die Möglichkeit, die Interessen des Kindes durch eine Verfassungsbeschwerde der im fachgerichtlichen Verfahren bestellten Verfahrensbeiständin auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren geltend zu machen.
Dass die Verfahrensbeiständin hier keine Verfassungsbeschwerde erhoben hat, führt nicht zu einer unzureichenden Berücksichtigung der Interessen des betroffenen Kindes, die die Zulassung einer Prozessstandschaft des Beschwerdeführers bedingt oder auch nur gestattet.
Gelangt die Verfahrensbeiständin nach eigener Prüfung zu dem Ergebnis, dass die Rechte des Kindes im fachgerichtlichen Verfahren nicht verletzt worden sind, lässt sich dies nicht als Verhinderung der Durchsetzung der Rechte des Kindes verstehen.
Die Situation ist insbesondere nicht mit derjenigen von Eltern vergleichbar, die zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde nicht willens sind.
Während Eltern in einer solchen Konstellation die Verfassungsbeschwerde mit dem Ziel des Eingriffs in ihre eigenen Rechte erheben müssten und daher zwingend in einem Interessenkonflikt wären, kann in Bezug auf den Verfahrensbeistand angesichts seiner Aufgabenstellung, sowohl das subjektive Interesse des Kindes (Kindeswille) als auch dessen objektives Interesse (Kindeswohl) zu berücksichtigen, vermutet werden, dass seine Entscheidung gegen die Verfassungsbeschwerde auch tatsächlich auf objektiven, das Kindeswohl berücksichtigenden Erwägungen beruht.
Der Beschwerdeführer kann keine eigenen Rechte aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG geltend machen. Das staatliche Wächteramt des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG gewährt bereits kein materielles grundrechtsähnliches Recht.
Es ist untrennbar mit dem Anspruch des Kindes auf Schutz durch den Staat verbunden; es enthält eine staatliche Verpflichtung, die sich in erster Linie daraus ergibt, dass das Kind als Grundrechtsträger und als Wesen mit eigener Menschenwürde und eigenem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG einen Anspruch auf Schutz durch den Staat hat.
Die Anerkennung der Elternverantwortung findet ihre Rechtfertigung darin, dass das Kind des Schutzes und der Hilfe bedarf, um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln, wie sie dem Menschenbild des Grundgesetzes entspricht.
Hierüber hat der Staat zu wachen und notfalls das Kind, das sich nicht selbst zu schützen vermag, davor zu bewahren, dass seine Entwicklung durch einen Missbrauch der elterlichen Rechte oder eine Vernachlässigung Schaden erleidet.
Das Wächteramt enthält daher die zum Anspruch des Kindes auf Schutz spiegelbildliche Pflicht des Staates, diesen Schutz auch zu gewährleisten. Rechte gegenüber dem Staat hat insoweit allein das Kind, dessen Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 und 2 GG durch diesen Anspruch gerade geschützt sind. Ein subjektives Recht der mit dem Wächteramt befassten Behörden kann hieraus jedoch nicht hergeleitet werden.
BVerfG, Beschl. v. 15.12.2020 - 1 BvR 1395/19
Quelle: BVerfG, Pressemitteilung v. 09.02.2021