Die Pflegeeltern können eine Rückführung des Pflegekindes nur beanspruchen, wenn zwischen der Herausnahme des Kindes aus ihrem Haushalt und der Einleitung des Verfahrens zur Anordnung des Verbleibs ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang besteht. Die Herausnahme darf noch nicht abgeschlossen sein. Das hat der BGH in Anwendung der Regelung des § 1632 Absatz 4 BGB entschieden.
Sachverhalt
Die Antragstellerin und ihr Ehemann nahmen 2009 zwei Geschwister, geboren im Mai 2008 und im Oktober 2009, als Pflegekinder in ihrem Haushalt auf. Im Jahr 2013 wurde gegen sie ein Ermittlungsverfahren wegen Verbreitung, Erwerbs und Besitzes kinderpornografischer Schriften eingeleitet. Anlässlich einer Hausdurchsuchung wurde der Haushalt als „in der Tendenz zum Messietum entwickelt“ beschrieben. Dabei wurden Datenträger mit kinderpornografischen Daten und ein Chatverlauf mit pädophilem Inhalt gefunden, der dem Ehemann zugeordnet wurde. Das Jugendamt nahm daraufhin die Pflegekinder aus der Familie heraus.
Im November 2013 beantragte die Antragstellerin im Wege einer einstweiligen Anordnung die sofortige Rückführung und den Verbleib der Kinder in ihrem Haushalt. Nach dem Hinweis des Amtsgerichts, der Antrag sei gegen die sorgeberechtigten Eltern zu richten, nahm die Antragstellerin ihren Antrag zurück und kündigte die Einleitung eines Hauptsacheverfahrens an. Das Ermittlungsverfahren gegen die Antragstellerin wurde im Februar 2014 gem. § 170 Abs. 2 StGB eingestellt. Im März 2014 wurde der Mutter das Sorgerecht für die beiden Kinder entzogen und das Jugendamt als Vormund bestellt.
Im April 2014 hat die Antragstellerin die Rückführung und den Verbleib der Kinder in ihrem Haushalt beantragt. Das Amtsgericht hat den Antrag zurückgewiesen. Die Beschwerde der Antragstellerin hat das OLG ebenfalls zurückgewiesen, soweit sich die amtsgerichtliche Entscheidung auf § 1632 Abs. 4 BGB gründet, und im Übrigen verworfen. Gegen die Zurückweisung ihrer Beschwerde als unbegründet wendet sich die Antragstellerin mit der Rechtsbeschwerde.
Wesentliche Aussagen der Entscheidung
Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet, weil die gerügten Verstöße nicht vorliegen. Das OLG hat zutreffend ausgeführt, dass die Pflegeeltern nur dann eine Rückführung des Pflegekindes nach § 1632 Abs. 4 BGB beanspruchen können, wenn die Beendigung des Aufenthalts des Kindes bei ihnen in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Verbleibensanordnungsverfahren steht (ebenso OLG Hamm, Beschl. v. 08.03.1985 – 15 W 64/85 und OLG Karlsruhe, Beschl. v. 20.09.2004 – 16 UF 88/04, anderer Ansicht: Amtsgericht Neuss, Beschl. v. 13.07.2009 – 48 F 204/09 und wohl auch OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 19.05.1983 – 20 W 207/83).
Gemäß § 1632 Abs. 4 BGB kann das Familiengericht – wenn die Eltern das Kind von der Pflegeperson wegnehmen wollen – von Amts wegen oder auf Antrag der Pflegeperson anordnen, dass das Kind, das seit längerer Zeit in Familienpflege lebt, bei der Pflegeperson verbleibt, wenn und solange das Kindeswohl durch die Wegnahme gefährdet würde. Somit erfasst § 1632 Abs. 4 BGB einen ununterbrochenen Aufenthalt des Kindes bei den Pflegeeltern. Das Gesetz will das Kind damit vor einer Herausnahme aus einer Pflegefamilie zur Unzeit schützen (BT-Drucks. 8/2788, S. 52).
Ein zwischen dem Kind und den Pflegeeltern seit längerer Zeit bestehendes Familienpflegeverhältnis soll nicht zum Schaden des Kindes zerstört werden (BVerfG, Beschl. v. 12.10.1988 – 1 BvR 818/88 und BGH, Beschl. v. 22.01.2014 – XII ZB 68/11). Ist hingegen die Herausnahme des Kindes aus dem Haushalt der Pflegefamilie in dem Sinn abgeschlossen, dass der Lebensmittelpunkt des Kindes bereits an einer anderen Stelle eingerichtet ist, lässt sich die Herausnahme zur Unzeit nicht mehr durch Maßnahmen nach § 1632 Abs. 4 BGB abwenden.
Die Herausgabe des Kindes ist in § 1632 Abs. 1 BGB geregelt. § 1632 Abs. 4 BGB enthält demgegenüber keinen Herausgabeanspruch, sondern stellt letztlich eine Einwendung gegen die verlangte Kindesherausgabe dar. Sie soll als verfahrensrechtliche Sonderregelung und zugleich milderes Mittel als § 1666 BGB eine Entziehung oder Einschränkung des Sorgerechts entbehrlich machen, wenn die sorgeberechtigten Eltern das Kind gem. § 1632 Abs. 1 BGB unter Gefährdung des Kindeswohls von den Pflegeeltern herausverlangen (BayObLG, Urt. v. 16.04.1996 – 11 UF 4188/95 und OLG Karlsruhe, a.a.O.).
Hielte man trotz eines bereits eingerichteten neuen Aufenthaltsorts des Kindes einen Herausgabeanspruch der Pflegeeltern für von § 1632 Abs. 4 BGB erfasst, würde man den Pflegeeltern einen rechtlich für sie gerade nicht vorgesehenen Herausgabeanspruch zubilligen. Dies wäre jedoch mit Blick auf § 1632 BGB systemwidrig.
Die Pflegefamilie kann sich zwar auf Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 GG berufen. Diesem Schutz trägt § 1632 BGB indessen hinreichend Rechnung. Beim Vorliegen der materiellen Voraussetzungen wird sichergestellt, dass das Kind in seiner Pflegefamilie verbleiben kann, zumal wenn die Pflegeeltern das Kind in einer jahrelangen Dauerpflege betreut haben oder andere gewichtige Gründe die Trennung des Pflegekindes von den Pflegeeltern verbieten. Wegen der schwächeren Ausgestaltung von auf Zeit angelegten Pflegekindschaftsverhältnissen bedarf es von Verfassungs wegen keines gesonderten Herausgabeanspruchs. Denn bei der Einführung von § 1632 Abs. 4 BGB sollte vor allem dem Wohl des Kindes entsprochen werden (BVerfG, a.a.O. und BGH, Beschl. v. 26.09.2007 – XII ZB 229/06).
Das OLG hat jedoch angesichts des über fünf Monate nach der Herausnahme der Pflegekinder gestellten Antrags den erforderlichen unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang verneint. Der Hinweis der Antragstellerin, sie habe den Hauptsacheantrag erst nach der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen sie stellen wollen, ist nicht geeignet, den Anwendungsbereich des § 1632 Abs. 4 BGB in zeitlicher Hinsicht zu erweitern. § 1632 Abs. 4 BGB ist nach zutreffender Auffassung auch anwendbar, wenn nicht die Eltern, sondern ein Vormund oder ein Pfleger die Herausgabe des Kindes verlangen (siehe etwa OLG Hamm, a.a.O.).
Folgerungen aus der Entscheidung
Die Pflegeeltern können nach § 1632 Abs. 4 BGB eine Rückführung des Pflegekindes beanspruchen, wenn ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang zwischen der Beendigung des Aufenthalts des Kindes bei ihnen und dem Verbleibensanordnungsverfahren besteht. Denn zum Schutz des Kindes soll eine zwischen ihm und seiner Pflegefamilie bestehende emotionale Bindung nicht zerstört werden. Ist hingegen die Herausnahme des Kindes aus dem Haushalt der Pflegefamilie in dem Sinn abgeschlossen, dass der Lebensmittelpunkt des Kindes bereits an einer anderen Stelle eingerichtet ist, lässt sich die Herausnahme zur Unzeit nicht mehr durch Maßnahmen nach § 1632 Abs. 4 BGB abwenden.
Wurde das Kind dagegen bereits längere Zeit vor der Einleitung eines Verfahrens nach § 1632 Abs. 4 BGB von der Pflegeperson getrennt und fehlt es insoweit an einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zwischen der Trennung und dem Antrag der Pflegeperson, käme eine Anordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB einem Herausgabeanspruch der Pflegeperson gleich, der nach dem Wortlaut und dem Schutzzweck der Vorschrift nicht besteht. § 1632 Abs. 4 BGB soll allein eine Herausnahme zur Unzeit abwehren.
Dieser Schutzzweck der Norm kann nicht mehr erreicht werden, wenn das Pflegekind die ihm vertraute Umgebung bereits seit längerer Zeit verlassen hat und sich mittlerweile in einer neuen gefestigten Lebenssituation befindet.
Praxishinweis
Wenn die Pflegeeltern nach § 1632 Abs. 4 BGB die Rückführung des Pflegekindes beanspruchen, darf die Herausnahme aus ihrem Haushalt noch nicht abgeschlossen sein. Sie können lediglich eine Herausnahme zur Unzeit und eine dadurch drohende Kindeswohlgefährdung abwehren.
BGH, Beschl. v. 16.11.2016 – XII ZB 328/15
Quelle: Ass. jur. Nicole Seier