EuGH, Urt. v. 19.04.2012 - C-415/10
Es gibt im Unionsrecht keinen Auskunftsanspruch des geeigneten abgelehnten Bewerbers darüber, ob am Ende des Einstellungsverfahrens ein anderer Bewerber eingestellt wurde. Von der Verweigerung dieser Informationen kann auf eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung geschlossen werden.{DB:tt_content:2566:bodytext}
Darum geht es
Es handelt sich um ein Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV.
Die Klägerin wurde am 07.09.1961 geboren und ist russischer Herkunft. Sie ist Inhaberin eines russischen Diploms als Systemtechnik-Ingenieurin, dessen Gleichwertigkeit mit einem von einer Fachhochschule erteilten deutschen Diplom in Deutschland anerkannt wurde. Die Beklagte veröffentlichte innerhalb eines Monats zweimal eine gleichlautende Stellenanzeige, deren Anforderungsprofil die Klägerin erfüllte. Die Beklagte lehnte beide Bewerbungen der Klägerin ab, ohne sie zu einem Gespräch einzuladen und ohne Gründe für diese Ablehnung anzugeben.
Die Klägerin war der Ansicht, dass sie die Anforderungen für die betreffende Stelle erfülle und wegen ihres Geschlechts, ihres Alters und ihrer ethnischen Herkunft ungünstiger behandelt worden sei als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation. Sie erhob Klage auf Zahlung von Schadensersatz wegen Diskriminierung bei der Beschäftigung und auf Vorlage der Bewerbungsunterlagen des eingestellten Bewerbers. Die Bewerbungsunterlagen benötige sie, um den Nachweis führen zu können, dass sie besser qualifiziert sei.
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht wiesen die Klage ab. Daraufhin legte die Klägerin Revision zum BAG ein. Das BAG hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH u.a. die folgende Rechtsfrage im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens vorgelegt:
„1. Sind Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54, Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/43 und Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin gehend auszulegen, dass einem Arbeitnehmer, der darlegt, dass er die Voraussetzungen für eine von einem Arbeitgeber ausgeschriebene Stelle erfüllt, im Falle seiner Nichtberücksichtigung ein Anspruch gegen den Arbeitgeber auf Auskunft eingeräumt werden muss, ob dieser einen anderen Bewerber eingestellt hat und, wenn ja, aufgrund welcher Kriterien diese Einstellung erfolgt ist?
2. Falls die erste Frage bejaht wird:
Ist der Umstand, dass der Arbeitgeber die geforderte Auskunft nicht erteilt, eine Tatsache, welche das Vorliegen der vom Arbeitnehmer behaupteten Diskriminierung vermuten lässt?"
Wesentliche Entscheidungsgründe
Der EuGH verweist darauf, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Richtlinien nahezu wortgleich mit Art. 4 Abs. 1 RL 97/80/EG seien, der für Fälle der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dieselbe Beweislastregelung vorsah. Es gäbe keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Unionsgesetzgeber die durch Art. 4 Abs. 1 RL 97/80 eingeführte Beweislastregelung ändern wollte.
Es obliege der Person, die sich durch die Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert hält, zunächst Tatsachen glaubhaft zu machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen. Nur wenn diese Person solche Tatsachen glaubhaft mache, habe der Beklagte sodann nachzuweisen, dass keine Verletzung des Diskriminierungsverbots vorläge.
Es gebe keinen spezifischen Informationsanspruch einer Person, die sich durch die Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert hält. Es sei jedoch nicht ausgeschlossen, dass eine Verweigerung von Informationen im Rahmen des Nachweises solcher Tatsachen die Verwirklichung des mit diesen Richtlinien verfolgten Ziels beeinträchtigen und ihnen die praktische Wirksamkeit nehmen kann. Dieser Gefahr sei durch die angemessene Berücksichtigung der Verweigerung von Informationen durch den Beklagten im Rahmen der Beweislastregelungen der RL 2000/43, 2000/78 und 2006/54 zu begegnen.
Mit dieser Verpflichtung habe das vorlegende Gericht bei der Klärung der Frage, ob genügend Indizien nachgewiesen wurden, um das Vorliegen einer Diskriminierung vermuten zu lassen, alle Umstände des Ausgangsrechtsstreits zu berücksichtigen. Zu diesen zähle neben dem Umstand, dass die Beklagte jeden Zugang zu den Informationen verweigert habe, auch die Tatsache, dass die Klägerin trotz unbestrittener Qualifikation für die ausgeschriebene Stelle zweimal nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen wurde.
Einer Beantwortung der zweiten Vorlagefrage bedürfe es nicht.
Folgerungen aus der Entscheidung
Die Entscheidung des EuGH ist von der Tendenz her nicht überraschend, nachdem der EuGH im Urteil vom 21.07.2011 (C-104/10 (Kelly)) im Rahmen der Auslegung des Art. 4 Abs. 1 RL 97/80/EG bereits einen Informationsanspruch - dort eines Bewerbers um einen Ausbildungsplatz - verneint hat. Sie eröffnet den nationalen Gerichten einen erheblichen Beurteilungsspielraum. In dem Ausgangsverfahren spricht angesichts der besonderen Umstände, die auch der EuGH in seiner Entscheidung hervorhebt, alles dafür, dass die Beklagte gem. § 22 AGG die Beweislast dafür trägt, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat.
Praxishinweis
Im Urteil vom 21.07.2011 (C-104/10) hat der EuGH auch die Aspekte der Vertraulichkeit (= Datenschutz der übrigen Bewerber) hervorgehoben. Die Übersendung redigierter Informationen an den Bewerber um einen Berufsausbildungsplatz gewährleiste deshalb die praktische Wirksamkeit der RL 97/80/EG, die die Benachteiligung wegen des Geschlechts verhindern sollte. Dies ist unverändert auf die Antidiskriminierungsrichtlinien zu übertragen. Offen ist noch, welche Information geringeren Umfangs die praktische Wirksamkeit der Antidiskriminierungsrichtlinien nicht beeinträchtigt.
Quelle: RA Dr. Martin Kolmhuber - vom 11.07.12