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Neue Rechtsprechung zur "Rügeverkümmerung" verfassungsgemäß

Die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur "Rügeverkümmerung" im Strafverfahren ist verfassungsgemäß.

Sie wahrt die verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfindung und begegnet auch im Hinblick auf die Beschuldigtenrechte auf ein faires Verfahren und auf effektiven Rechtsschutz keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Der Beschwerdeführer war wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt worden. In der Revision machte er mit einer Verfahrensrüge geltend, der Anklagesatz sei in der tatrichterlichen Hauptverhandlung nicht verlesen worden. Zum Beweis berief sich der Beschwerdeführer auf das Sitzungsprotokoll, in der die Verlesung des Anklagesatzes nicht beurkundet war. Der Vorsitzende der Strafkammer leitete daraufhin ein Protokollberichtigungsverfahren ein. Nachdem sämtliche Kammermitglieder, die Urkundsbeamtin und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft erklärt hatten, dass der Anklagesatz tatsächlich verlesen worden sei, wurde das Protokoll entsprechend berichtigt.

Der für die Revision zuständige 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hielt die Verfahrensrüge für unbegründet, weil er die Protokollberichtigung als beachtlich ansah. An der beabsichtigten Verwerfung der Revision sah der Senat sich indes durch die bis dahin praktizierte Rechtsprechung zum "Verbot der Rügeverkümmerung" gehindert. Nach dieser bereits durch das Reichsgericht begründeten Rechtsprechung war eine Berichtigung des tatrichterlichen Protokolls für das Revisionsgericht ausnahmsweise unbeachtlich, wenn durch die Protokollberichtigung einer bereits erhobenen Verfahrensrüge die Grundlage im Protokoll entzogen wurde.

Der 1. Strafsenat legte daher dem Großen Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs die Sache zur Entscheidung vor. Dieser rückte von der bisherigen Rechtsprechung zum "Verbot der Rügeverkümmerung" ab und erkannte, dass durch eine zulässige Berichtigung des Protokolls auch zum Nachteil des Beschwerdeführers einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzogen werden kann. Die Urkundspersonen hätten im Vorfeld einer rügeverkümmernden Protokollberichtigung allerdings den Beschwerdeführer anzuhören und - wenn dieser der Protokollberichtigung substantiiert widerspreche - die Protokollberichtigungsentscheidung zu begründen. Die Beachtlichkeit der Protokollberichtigung unterliege im Rahmen der erhobenen Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht, wobei im Zweifel das Protokoll in der nicht berichtigten Fassung gelte. Auf der Grundlage dieser neuen Rechtsprechung zur Rügeverkümmerung verwarf der 1. Strafsenat die Revision des Beschwerdeführers als unbegründet.

Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers wies der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit folgender Begründung zurück:

Die Revisionsentscheidung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs wahrt die verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfindung. Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs ist in vertretbarer Weise davon ausgegangen, dass die Strafprozessordnung im Hinblick auf die Zulässigkeit und Beachtlichkeit "rügeverkümmernder" Protokollberichtigung eine Lücke aufweist, und hat diese Lücke in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise ausgefüllt. Die neue Rechtsprechung zur "Rügeverkümmerung" steht auch mit den Beschuldigtenrechten auf effektiven Rechtsschutz und auf ein faires Verfahren im Einklang. Sie gewährt dem Angeklagten effektiven Schutz vor unberechtigten Protokollberichtigungen. Zudem ermöglicht die Zulassung "rügeverkümmernder" Protokollberichtigungen es den Gerichten, dem Phänomen der unwahren, auf das Protokoll gestützten Verfahrensrüge zu begegnen. Sie trägt damit dem verfassungsrechtlichen Anliegen einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, dem Beschleunigungsgrundsatz und dem Gesichtspunkt des Opferschutzes Rechnung.

Quelle: BVerfG - Pressemitteilung vom 05.03.09