Der Gesetzgeber muss in der Corona-Pandemie Regelungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer „Triage“ treffen. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Fehlende Vorkehrungen für die Vermeidung einer Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, intensivmedizinischer Behandlungsressourcen stellen eine Verletzung Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dar.
Darum geht es
Behinderte Menschen mit bestimmten Beeinträchtigungen und Vorerkrankungen sind in der Coronavirus-Pandemie spezifisch gefährdet. Sie unterliegen in Einrichtungen und bei täglicher Unterstützung durch mehrere Dritte einem hohen Infektionsrisiko, und sie tragen ein höheres Risiko, schwerer zu erkranken und an COVID-19 zu sterben.
Um in der Pandemie auftretende Knappheitssituationen in der Intensivmedizin und damit eine Triage von vornherein zu verhindern, wurden zahlreiche Verordnungen und Gesetze in Kraft gesetzt oder geändert.
Gesetzliche Vorgaben für die Entscheidung über die Zuteilung nicht für alle ausreichender intensivmedizinischer Kapazitäten gibt es bislang aber nicht. Weithin finden jedoch standardisierte Entscheidungshilfen Anwendung.
Die Beschwerdeführenden rügen mit ihrer Verfassungsbeschwerde, dass der Gesetzgeber das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und auch die Anforderungen aus Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention verletze, weil er für den Fall einer Triage im Laufe der Coronavirus-Pandemie nichts unternommen habe, um sie wirksam vor einer Benachteiligung zu schützen.
Handele der Gesetzgeber nicht, drohe ihnen zudem die Verletzung ihrer Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und ihrer Rechte auf Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG).
Der Senat hat sachkundigen Dritten Gelegenheit gegeben, Stellung zu nehmen.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Aus dem Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ergibt sich ein Auftrag, Menschen wirksam vor einer Benachteiligung wegen der Behinderung zu schützen, der sich in bestimmten Konstellationen zu einer konkreten Handlungspflicht des Gesetzgebers verdichtet.
Eine Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG liegt vor, wenn eine Person in der Fähigkeit zur individuellen und selbstständigen Lebensführung längerfristig beeinträchtigt ist. Gemeint sind nicht geringfügige Beeinträchtigungen, sondern längerfristige Einschränkungen von Gewicht. Auf den Grund der Behinderung kommt es nicht an.
Das Grundrecht schützt daher auch chronisch Kranke, die entsprechend längerfristig und entsprechend gewichtig beeinträchtigt sind. Da ein Beschwerdeführer zwar eine chronische Krankheit belegt, aber nicht zu den Beeinträchtigungen vorgetragen hatte, war die Verfassungsbeschwerde insoweit unzulässig.
Das Grundrecht des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hat mehrere Schutzdimensionen. Es schützt abwehrrechtlich gegen staatliche Benachteiligung, enthält das Gebot, die Benachteiligung wegen einer Behinderung durch Fördermaßnahmen auszugleichen und ist als objektive Wertentscheidung in allen Rechtsgebieten zu beachten.
Aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG folgt darüber hinaus ein Schutzauftrag für den Gesetzgeber. Ihn trifft damit keine umfassende, auf die gesamte Lebenswirklichkeit behinderter Menschen und ihres Umfelds bezogene Handlungspflicht.
kann sich der Schutzauftrag in bestimmten Konstellationen ausgeprägter Schutzbedürftigkeit zu einer konkreten Schutzpflicht verdichten. Zu solchen Konstellationen gehören die gezielte, als Angriff auf die Menschenwürde zu wertende Ausgrenzung oder eine Situation struktureller Ungleichheit.
Zudem kann eine Handlungspflicht bestehen, wenn mit einer Benachteiligung wegen Behinderung Gefahren für hochrangige grundrechtlich geschützte Rechtsgüter einhergehen. Das ist insbesondere der Fall, wenn der Schutz des Lebens in Rede steht (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG).
Die Verletzung einer Schutzpflicht ist allerdings aufgrund des weiten gesetzgeberischen Spielraums zur Ausgestaltung des Schutzes nur begrenzt überprüfbar.
Sie kann nur festgestellt werden, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben.
Dem Gesetzgeber steht hier grundsätzlich ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu.
Besteht das Risiko, dass Menschen in einer Triage-Situation bei der Zuteilung intensivmedizinischer Behandlungsressourcen wegen einer Behinderung benachteiligt werden, verdichtet sich der Schutzauftrag aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu einer konkreten Pflicht des Staates, hiergegen wirksame Vorkehrungen zu treffen.
In einer Rechtsordnung, die auf eine gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen an der Gesellschaft ausgerichtet ist, kann eine Benachteiligung wegen einer Behinderung nicht hingenommen werden, der die Betroffenen nicht ausweichen können und die unmittelbar zu einer Gefährdung der nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG als überragend bedeutsam geschützten Rechtsgüter Gesundheit und Leben führt.
Die Betroffenen können sich in einer solchen Situation zudem nicht selbst schützen. Es liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass für die Beschwerdeführenden ein Risiko besteht, bei Entscheidungen über die Verteilung pandemiebedingt nicht ausreichender überlebenswichtiger Ressourcen in der Intensivmedizin und damit bei einer Entscheidung über Leben und Tod aufgrund ihrer Behinderung benachteiligt zu werden.
Aus der Gesamtschau der sachkundigen Einschätzungen und Stellungnahmen wie auch aus den fachlichen Handlungsempfehlungen ergibt sich, dass die Betroffenen vor erkennbaren Risiken für höchstrangige Rechtsgüter in einer Situation, in der sie sich selbst nicht schützen können, derzeit nicht wirksam geschützt sind.
So wird auch aus ärztlicher Sicht davon ausgegangen, dass sich in der komplexen Entscheidung über eine intensiv-medizinische Therapie subjektive Momente ergeben können, die Diskriminierungsrisiken beinhalten.
Als sachkundige Dritte befragte Facheinrichtungen und Sozialverbände haben im Einklang mit wissenschaftlichen Studien dargelegt, dass ein Risiko besteht, in einer Situation knapper medizinischer Ressourcen aufgrund einer Behinderung benachteiligt zu werden.
Mehrere sachkundige Dritte haben ausgeführt, dass die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen oft sachlich falsch beurteilt werde und eine unbewusste Stereotypisierung das Risiko mit sich bringe, behinderte Menschen bei medizinischen Entscheidungen zu benachteiligen.
Dieses Risiko wird auch durch die fachlichen Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) für intensivmedizinische Entscheidungen bei pandemiebedingter Knappheit nicht beseitigt.
Die Empfehlungen sind rechtlich nicht verbindlich und auch kein Synonym für den medizinischen Standard im Fachrecht, sondern nur ein Indiz für diesen. Zudem ist nicht ausgeschlossen, dass die Empfehlungen in ihrer derzeitigen Fassung zu einem Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen werden können.
Zwar stellen sie ausdrücklich klar, dass eine Priorisierung aufgrund von Grunderkrankungen oder Behinderungen nicht zulässig ist. Ein Risiko birgt gleichwohl, dass in den Empfehlungen schwere andere Erkrankungen im Sinne von Komorbiditäten und die Gebrechlichkeit als negative Indikatoren für die Erfolgsaussichten der intensivmedizinischen Behandlung bezeichnet werden.
Insofern ist nicht ausgeschlossen, dass eine Behinderung pauschal mit Komorbiditäten in Verbindung gebracht oder stereotyp mit schlechten Genesungsaussichten verbunden wird. Auch wird die Erfolgsaussicht der Überlebenswahrscheinlichkeit als für sich genommen zulässiges Kriterium nicht eindeutig nur auf die aktuelle Krankheit bezogen.
Der Gesetzgeber hat bislang keine Vorkehrungen getroffen, die dem Risiko einer Benachteiligung von Menschen aufgrund einer Behinderung bei der Verteilung von knappen intensivmedizinischen Behandlungsressourcen wirksam begegnen.
Zwar hat sich der Gesetzgeber mehrfach mit dem Schutzgebot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG befasst. Insbesondere hat er mit dem Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen, dem Bundesteilhabegesetz, deutsches Recht an die Behindertenrechtskonvention angepasst und mit dem Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen die Barrierefreiheit zu fördern gesucht.
Auch finden sich allgemeine Diskriminierungsverbote im Sozialrecht. Jedoch fehlen hinreichend wirksame, auch nach Art. 25 BRK geforderte Vorgaben zum Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen, die in der Situation der pandemiebedingten Triage vor Benachteiligung wegen der Behinderung schützen könnten.
Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte befinden sich im Fall einer pandemiebedingten Triage in einer extremen Entscheidungssituation. Sie müssen entscheiden, wer die nicht ausreichend zur Verfügung stehenden intensivmedizinischen Ressourcen erhalten soll und wer nicht. In dieser Situation kann es besonders fordernd sein, auch Menschen mit einer Behinderung diskriminierungsfrei zu berücksichtigen.
Dafür muss sichergestellt sein, dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird. Derzeitige gesetzliche Regelungen erschöpfen sich indes entweder in einer Wiederholung des Benachteiligungsverbots aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG oder beschränken sich darauf, dass besonderen Bedürfnissen Rechnung zu tragen sei, was zur Erfüllung der aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG resultierenden staatlichen Handlungspflicht nicht genügt. Desgleichen gewährleistet das aktuelle ärztliche Berufsrecht den Schutz vor Benachteiligung nicht.
Dem Gesetzgeber steht bei der Entscheidung, wie die konkrete Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG im Einzelnen erfüllt werden soll, ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu.
Der Gesetzgeber hat mehrere Möglichkeiten, dem Risiko der Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Ressourcen wirkungsvoll zu begegnen.
Dabei hat er zu berücksichtigen, dass die für die Behandlung zur Verfügung stehenden begrenzten personellen und sachlichen Kapazitäten des Gesundheitswesens nicht zusätzlich in einer Weise belastet werden, dass das letztendlich angestrebte Ziel, Leben und Gesundheit von Patientinnen und Patienten mit Behinderungen wirkungsvoll zu schützen, in sein Gegenteil verkehrt würde.
Gleiches gilt im Hinblick auf die durch den Gesetzgeber zu beachtenden Schutzpflichten für das Leben und die Gesundheit der anderen Patientinnen und Patienten.
Daher sind die Sachgesetzlichkeiten der klinischen Praxis, etwa die aus medizinischen Gründen gebotene Geschwindigkeit von Entscheidungsprozessen, ebenso zu achten wie die Letztverantwortung des ärztlichen Personals für die Beurteilung medizinischer Sachverhalte im konkreten Einzelfall, die in deren besonderer Fachkompetenz und klinischer Erfahrung begründet liegt.
Innerhalb dieses Rahmens hat der Gesetzgeber selbst zu entscheiden, ob er Vorgaben zu den Kriterien von Verteilungsentscheidungen macht. Dass aufgrund der Achtung vor der Unantastbarkeit der Menschenwürde Leben nicht gegen Leben abgewogen werden darf, steht einer Regelung von Kriterien, nach denen zu entscheiden ist, wie knappe Ressourcen zur Lebensrettung verteilt werden, nicht von vornherein entgegen
Ein Kriterium, das den inhaltlichen Anforderungen der Verfassung genügt, kann vom Gesetzgeber vorgegeben werden. Der Gesetzgeber kann auch Vorgaben zum Verfahren machen, wie ein Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen oder für die Dokumentation, oder er kann die Unterstützung vor Ort regeln.
Dazu kommt die Möglichkeit spezifischer Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung in der Medizin und Pflege und insbesondere des intensivmedizinischen Personals, um auf die Vermeidung von Benachteiligungen wegen Behinderung in einer Triage-Situation hinzuwirken. Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, welche Maßnahmen zweckdienlich sind.
BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021 - 1 BvR 1541/20
Quelle: BVerfG, Pressemitteilung v. 28.12.2021