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EU-Rahmenbeschluss zu Abwesenheitsentscheidungen in Strafverfahren

Die Justizministerinnen und -minister der Europäischen Union haben sich am 06.06.2008 auf einen Rahmenbeschluss geeinigt, mit dem die Rechte der von Abwesenheitsentscheidungen im Strafverfahren Betroffenen bei der Anerkennung der Entscheidung im EU-Ausland verbessert werden.

Der Rahmenbeschluss stellt strengere Kriterien als bislang für die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen aus dem EU-Ausland auf.

Er ändert dazu fünf bereits geeinigte Rahmenbeschlüsse (RB betreffend die gegenseitige Anerkennung von freiheitsentziehenden Entscheidungen, RB über die gegenseitige Anerkennung und Überwachung von Bewährungsauflagen und alternativen Sanktionen, RB über die gegenseitige Anerkennung von Einziehungsentscheidungen und RB über die gegenseitige Anerkennung von Geldbußen und Geldstrafen) ab mit dem Ziel, die Rechte der Betroffenen zu stärken.

Allen genannten Rahmenbeschlüssen ist gemeinsam, dass unter bestimmten Voraussetzungen eine in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Entscheidung auch dann anzuerkennen und zu vollstrecken ist, wenn sie ergangen ist, ohne dass die betroffene Person bei der mündlichen Verhandlung anwesend war. Die Anerkennungsvoraussetzungen werden mit dem vorliegenden Rahmenbeschluss zugunsten der Betroffenen präzisiert bzw. modifiziert:

Präzisierung von Begrifflichkeiten in bereits geeinigten Rahmenbeschlüssen

Erläuterungen am Bespiel des RB zum Europäischen Haftbefehl (vergleichbare Regelungen gelten auch für die übrigen genannten Rahmenbeschlüsse):

Nach geltender EU-Rechtslage muss ein Europäischer Haftbefehl aufgrund eines Abwesenheitsurteils aus dem EU-Ausland vollstreckt werden, wenn die betroffene Person zum Termin der Verhandlung persönlich vorgeladen war oder auf andere Weise vom Termin und vom Ort der Verhandlung unterrichtet worden ist.

Zukünftig muss ein anderer EU-Mitgliedsstaat einen Europäischen Haftbefehl, der aufgrund eines Abwesenheitsurteils, dann anerkennen, wenn die betroffene Person

  • rechtzeitig persönlich vorgeladen wurde und dabei über den vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung unterrichtet wurde, der zur Abwesenheitsentscheidung geführt hat oder
  • rechtzeitig auf andere Weise tatsächlich und offiziell über den vorgesehen Termin und Ort dieser Verhandlung unterrichtet wurde. Diese Unterrichtung muss auf eine Weise stattgefunden haben, dass zweifelsfrei nachgewiesen ist, dass die betroffene Person von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte (z. B. wenn ein von der Person bestellter Rechtsanwalt der betroffenen Person eine Terminsnachricht des Gerichts übergibt).
  • Ferner muss die Person sowohl bei der persönlichen Ladung als auch bei der Information auf andere Weise zusätzlich darüber unterrichtet worden sein, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn die betroffene Person zur Verhandlung nicht erscheint.

Diese präzisierten Vollstreckungsvoraussetzungen müssen zudem vom ersuchenden Staat konkret nachgewiesen werden. Hierfür wurde das europaweit einheitliche Formblatt, in dem die maßgeblichen Grundlagen der zu vollstreckenden Entscheidung niedergelegt werden müssen, präzisiert. Künftig muss der ersuchende Staat neben beispielsweise der strafbaren Handlung, der dadurch verletzten Rechtsnorm und der Art des Urteils genau angeben, ob, wie, wann und wodurch der Betroffene geladen wurde.

Beispiel:
A (französischer Staatsangehöriger), der seit kurzem in Deutschland wohnt, wurde im Mitgliedstaat X in Abwesenheit verurteilt. Zuvor war er zur Verhandlung persönlich geladen worden. Allerdings wurde er nicht darüber belehrt, dass eine Entscheidung auch in seiner Abwesenheit ergehen kann. Mitgliedstaat X ersucht Deutschland um A’s Auslieferung mit Europäischem Haftbefehl. Nach alter Rechtslage des Europäischen Haftbefehls müsste A ausgeliefert werden. Nach neuer Rechtslage hingegen kann Deutschland die Auslieferung ablehnen, da die Belehrung über die Folgen des Ausbleibens im Termin unterblieben ist. Auf Basis des verbesserten Formblattes kann Deutschland zudem belastbarer als bisher überprüfen, ob die Voraussetzungen, die vom Staat X als erfüllt angegeben wurden, auch tatsächlich vorlagen.

Definition des „Abwesenheitsurteils“
Da es bislang kein einheitliches europäisches Verständnis darüber gibt, wann ein Abwesenheitsurteil vorliegt, konnte es vorkommen, dass bislang von einem ausländischen Staat im Formblatt angegeben wurde, es liege keine Abwesenheitsentscheidung vor, obwohl nach deutschem Verständnis eine Abwesenheitsentscheidung vorgelegen hätte. Das einheitliche europäische Verständnis, wann eine Abwesenheitsentscheidung vorliegt sowie die präzisierten Informationen aus dem Formblatt sind für den ersuchten Staat daher von erheblicher Bedeutung.

Der neue Rahmenbeschluss legt nun verbindlich fest, dass ein Abwesenheitsurteil immer dann vorliegt, wenn die Person in der Verhandlung, die zu der Abwesenheitsentscheidung geführt hat, nicht anwesend war.

Künftig kann die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der auf einem Abwesenheitsurteil basiert, abgelehnt werden, wenn nicht:

  • entweder die Person rechtzeitig persönlich vorgeladen wurde und so über den vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung unterrichtet wurde oder auf andere Weise tatsächlich offiziell über den vorgesehenen Termin und Ort dieser Verhandlung unterrichtet wurde, so dass zweifelsfrei nachgewiesen ist, dass die Person von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte sowie jeweils über die Tatsache unterrichtet worden ist, dass ggf. ein Abwesenheitsurteil ergehen kann, oder
  • die Person, in Kenntnis der anberaumten Verhandlung, einen Rechtsbeistand beauftragt hat, sie bei der Verhandlung zu verteidigen und bei der Verhandlung tatsächlich von diesem Rechtsbeistand verteidigt worden ist, oder
  • das Abwesenheitsurteil der Person bereits zugestellt worden war und sie ausdrücklich über ihr Recht auf ein neues Verfahren unterrichtet worden ist, sie aber ausdrücklich erklärt hat, das Abwesenheitsurteil nicht anzufechten oder dies innerhalb einer bestimmten Frist nicht getan hat, oder
  • für den Fall, dass der Person das Urteil noch nicht zugestellt wurde, gewährleistet ist, dass ihr unverzüglich nach Überstellung das Urteil zugestellt werden wird, sie ausdrücklich über ihr Recht auf ein neues Verfahren unterrichtet werden wird und über die Frist, hierüber eine Entscheidung zu treffen.


Schließlich ist vorgesehen, dass, falls die betroffene Person im Ausstellungsstaat des Europäischen Haftbefehls in Haft kommt, diese Haft regelmäßig oder auf Antrag der Person überprüft werden muss. Diese Haftprüfung muss zu einer Aussetzung der Haft führen können. Des Weiteren ist vorgesehen, dass der betroffenen Person - falls sie noch nie etwas von dem Verfahren gegen sich gehört hat - das Abwesenheitsurteil vor ihrer Überstellung übergeben werden muss, wenn sie dies wünscht. Diese letztgenannten Verbesserungen wurden auf Vorschlag Deutschlands zusätzlich in den Rahmenbeschluss aufgenommen.


Definition „erneutes Verfahren“

Der neue Rahmenbeschluss legt zudem fest, was unter einem solchen „erneuten Verfahren“ zu verstehen ist. Es muss folgende Voraussetzungen erfüllen:

  • Die Person kann an dem Verfahren teilnehmen;
  • der Sachverhalt einschließlich neuer Beweismittel werden erneut geprüft und
  • die ursprüngliche Entscheidung kann aufgehoben werden.

Bislang waren diese Kriterien für das erneute Verfahren nicht festgelegt.

Quelle: BMJ - Pressemitteilung vom 06.06.08