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Anspruch auf Spezialrollstuhl als des einziges Fortbewegungsmittel

Eine Verfassungsbeschwerde gegen die Verweigerung eines Spezialrollstuhls als des einzigen Fortbewegungsmittels im Haushalt war erfolgreich.

Die Beschwerdeführerin hatte sich gegen sozialgerichtliche Beschlüsse gewendet, die es abgelehnt hatten, ihr einen speziellen Elektrorollstuhl, der für sie die einzige Möglichkeit darstellt, sich im häuslichen Bereich ohne fremde Hilfe zu bewegen, im Wege des Eilrechtsschutzes zu bewilligen.

Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hob dieangegriffenen Beschlüsse des Sozialgerichts und desLandessozialgerichts auf, die wegen der noch notwendigen Ermittlungenmöglicher Gefahren für die Beschwerdeführerin beim Betrieb desRollstuhls eine Bewilligung im Eilrechtsschutz ausgeschlossen und aufdas Hauptsacheverfahren verwiesen hatten. Das Bundesverfassungsgerichtging von einer Verletzung des Gebots effektiven Rechtsschutzes aus,weil die Sozialgerichte das Beweisangebot der Beschwerdeführerin, ihreFähigkeit zur gefahrenfreien Nutzung eines entsprechend ausgerüstetenElektrorollstuhls mit einem leihweise zur Verfügung gestellten Fahrzeugvorzuführen, bereits im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzeshätten berücksichtigen müssen. Die Sache wurde zur erneutenEntscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen. xxxxxxxxxxxxSachverhalt:Die Beschwerdeführerin leidet an der Krankheit ALS (amyotropheLateralsklerose) mit nahezu vollständiger Lähmung der Muskulatur,wodurch sie komplett an den Rollstuhl gefesselt ist, den sie auch nichtmit eigener Muskelkraft in Bewegung setzen und steuern kann, auch nichtim häuslichen Umfeld. Im September 2007 beantragte sie bei ihrerKrankenkasse unter Vorlage einer entsprechenden Verordnung ihresbehandelnden Arztes die Versorgung mit einem speziell für siehergerichteten Elektrorollstuhl samt elektronischer Mundsteuerung. Aufder Grundlage von Gutachten, die die Fahrtauglichkeit derBeschwerdeführerin für einen Elektrorollstuhl im Straßenverkehrverneinten, lehnte die Krankenkasse die begehrte Versorgung ab. DieBeschwerdeführerin wandte sich hiergegen an das Sozialgericht undstellte dabei klar, dass es ihr um die Bewegungsfähigkeit im häuslichenUmfeld gehe. Während der Abwesenheit ihres Ehemannes sei sie imhäuslichen Umfeld an den Platz gebunden, wo sie "abgestellt" werde. DasSozialgericht lehnte die beantragte Bewilligung im Wege einstweiligenRechtsschutzes ab, weil umfangreiche medizinische Ermittlungen zurFrage einer etwaigen Selbst- oder Fremdgefährdung bei der Benutzung desElektrorollstuhls erforderlich seien - derartige Gefahren müsstensicher ausgeschlossen sein, bevor die begehrte Versorgung in Betrachtkomme. All diese Fragen seien aber nicht im Eilrechtsschutz, sondern imHauptsacheverfahren zu prüfen. Die dagegen erhobene Beschwerde hat dasLandessozialgericht zurückgewiesen. Einem Beweisangebot derBeschwerdeführerin, anhand eines leihweise überlassenenElektrorollstuhls im Rahmen des Eilrechtsschutzes die sachgerechteBedienung zu belegen, wurde dabei von den Fachgerichten nichtnachgegangen.xxxxxxxxxxxxDer Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:xxxxxxxxxxxxDie angegriffenen sozialgerichtlichen Entscheidungen stehen mit demGebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) nicht in Einklang. xxxxxxxxxxxxAuch im Verfahren der einstweiligen sozialgerichtlichen Anordnung giltder Amtsermittlungsgrundsatz, was die Möglichkeit einer Beweiserhebungeinschließt. Eine Vorwegnahme der Hauptsache kann dabei jedenfalls beidrohenden schweren und unzumutbaren Nachteilen auch im Eilrechtsschutzdurchaus geboten sein. Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung derSach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einerFolgenabwägung zu entscheiden, wobei auch die grundrechtlichen Belange,insbesondere der Grundwert der Menschenwürde, zu berücksichtigen sind.Je schwerer die Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit derVersagung vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind, umso weniger darfdas Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltendgemachten Rechtsposition zurückgestellt werden. xxxxxxxxxxxxDie Fachgerichte haben hier nicht ausreichend berücksichtigt, dass beieinem unter amyotropher Lateralsklerose leidenden Menschen mit völligemVerlust der eigenen Mobilität der Zwang zum Verharren in einerSituation der Hilflosigkeit eine schwerwiegende Einschränkungdarstellt, die seine Persönlichkeitsrechte berührt. Dabei ist zuberücksichtigen, dass aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit demSozialstaatsprinzip ein Anspruch auf die Mindestvoraussetzungen für einmenschenwürdiges Dasein folgt. Dazu gehört auch das Interesse derBeschwerdeführerin, im Rahmen ihrer krankheitsbedingt sehreingeschränkten Möglichkeiten im Wohnumfeld einen Rest an Mobilität zuerhalten.xxxxxxxxxxxxVor diesem Hintergrund durften die Fachgerichte hier auch im Wege desEilrechtsschutzes das Angebot der Beschwerdeführerin, ihreFahrtauglichkeit an einem leihweise überlassenen Rollstuhl unter Beweiszu stellen, nicht unter Hinweis auf lediglich denkbare Gefahrenlagenbeiseite schieben. Damit ließen sie das bereits im Eilrechtsschutzaktuelle und rechtlich schutzwürdige Interesse der Beschwerdeführerin,sich einen Rest an Mobilität zu erhalten, wegen einer von ihnen selbstnicht als nachgewiesen, sondern lediglich für möglich gehaltenen Gefahrbeim Betrieb des Elektrorollstuhls zurücktreten.

Quelle: BVerfG - Pressemitteilung vom 11.03.09