Das OLG Hamm hat einen Schmerzensgeldanspruch von 400.000 € zugesprochen, nachdem ein Gynäkologe aufgrund des Befunds eines CTG („Wehenschreiber“) zu spät eine Entbindung veranlasst hatte. Das Kind kam mit einer schweren Hirnschädigung zur Welt. Den Beweis dafür, dass der Hirnschaden auch ohne die grob fehlerhafte Behandlung eingetreten wäre, konnte der Mediziner nicht führen.
Darum geht es
Der Kläger aus dem westlichen Münsterland kam im November 2008 aufgrund einer Sauerstoffunterversorgung mit schweren dauerhaften körperlichen und geistigen Schäden zur Welt. Hierfür nimmt er den Beklagten, einen im westlichen Münsterland niedergelassenen Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, auf Schadensersatz in Anspruch.
Im Rahmen einer zunächst unauffällig verlaufenden Schwangerschaft ließ sich die Mutter des Klägers vom Beklagten untersuchen und behandeln. Ein im November 2008 in der Praxis des Beklagten erstelltes CTG ergab einen auf eine Sauerstoffunterversorgung des Kindes hinweisenden pathologischen Befund, so dass der Kläger schnellstmöglich hätte entbunden werden müssen.
Der Beklagte nahm das CTG allerdings erst nach ca. 50 Minuten zur Kenntnis, führte zur Überprüfung des pathologischen Befundes – was nicht zu beanstanden war – eine Doppler-Ultraschalluntersuchung durch und veranlasste die Mutter sodann, zunächst mit dem eigenen Pkw nach Hause zu fahren, ihre Tasche zu holen und sodann eine Entbindungsklinik in Münster aufzusuchen.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Das OLG Hamm hat nach umfangreicher, die Feststellungen des Landgerichts ergänzender Beweisaufnahme, unter anderem mit einem weiteren gynäkologischen Sachverständigengutachten, der Schadensersatzklage des Kindes überwiegend stattgegeben und den Beklagten insbesondere zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 400.000 € verurteilt.
Der Beklagte habe die Mutter des Klägers in der Gesamtschau grob fehlerhaft behandelt, so der 3. Zivilsenat. Der Beklagte habe es versäumt, das CTG innerhalb von spätestens 15-20 Minuten nach Beendigung der Aufzeichnung zur Kenntnis zu nehmen und auf eindeutige Pathologien zu sichten. Insoweit sei von einer nicht fachgerechten Verzögerung von 30 Minuten auszugehen.
Aufgrund der Hochrisikokonstellation - stummes (silentes) CTG und im Doppler-Ultraschall erkennbarer umgekehrter Blutfluss (Reverse Flow) in der Nabelschnurarterie - habe er die Mutter zudem schnellstmöglich, gegebenenfalls mit Hilfe eines Rettungswagens, in eine nahegelegene Entbindungsklinik einweisen müssen und sie nicht zunächst nach Hause entlassen dürfen, damit sie von dort aus selbst die Klinik aufsuche.
Außerdem habe es der Beklagte versäumt, der Mutter den Ernst der Lage und die Erforderlichkeit, schnellstmöglich ein Krankenhaus aufzusuchen, hinreichend zu verdeutlichen. Durch diese Versäumnisse sei es zu einem weiteren Zeitverlust von jedenfalls 15 Minuten gekommen.
Aufgrund dieses grob fehlerhaften Behandlungsgeschehens sei der Kläger mit einer Verzögerung von jedenfalls 45 Minuten entbunden worden, was für den bei ihm eingetretenen Hirnschaden jedenfalls mitursächlich geworden sei. Der aufgrund der grob fehlerhaften Behandlung nunmehr dem Beklagten obliegende Beweis dafür, dass der Hirnschaden auch ohne Behandlungsfehler eingetreten wäre, sei nicht erbracht.
Durch die Sauerstoffunterversorgung habe der Kläger einen Hirnschaden erlitten, der mit schwersten Beeinträchtigungen der Kommunikationsfähigkeit, der selbstbestimmten Interaktionsmöglichkeiten sowie seiner körperlichen Beweglichkeit einhergehe. Für diese Schädigung sei ihm ein Schmerzensgeld in Höhe von 400.000 € zuzusprechen.
OLG Hamm, Urt. v. 19.03.2018 - 3 U 63/15
Quelle: OLG Hamm, Pressemitteilung v. 03.05.2018