Der BGH hat über die Kostenübernahme einer Rechtsschutzversicherung im Abgasskandal entschieden. Demnach gilt: Wenn die höchstrichterliche Rechtsprechung nach der sog. Bewilligungsreife die Rechtslage zugunsten des Versicherungsnehmers geklärt hat, ist für die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Schluss der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht maßgeblich.
Darum geht es
Der Kläger nimmt die Beklagte auf Feststellung der Verpflichtung zur Gewährung von Deckungsschutz für die außergerichtliche und erstinstanzliche Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen gegen eine Herstellerin wegen behaupteter unzulässiger Abschalteinrichtungen für die Kfz-Abgasreinigung in Anspruch.
Der Kläger unterhält bei der Beklagten eine Rechtsschutzversicherung, die Schadensersatzansprüche umfasst. Die dem Versicherungsvertrag zugrundeliegenden Allgemeinen Rechtsschutz-Versicherungsbedingungen (ARB 2016) lauten auszugsweise:
„§ 3a Ablehnung des Rechtsschutzes wegen mangelnder Erfolgsaussichten oder wegen Mutwilligkeit - Stichentscheid
Die A. kann den Rechtsschutz ablehnen, wenn ihrer Auffassung nach
a) in einem der Fälle des § 2 a) bis g), n), q) aa) und cc) sowie r) aa) die Wahrnehmung der rechtlichen Interessen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat […].
In diesen Fällen ist dem Versicherungsnehmer, nachdem dieser die Pflichten gemäß § 17 Abs. 1 b) erfüllt hat, die Ablehnung unverzüglich unter Angabe der Gründe schriftlich mitzuteilen.“
Der Kläger erwarb im August 2020 ein gebrauchtes Wohnmobil zu einem Kaufpreis von 39.790 €. Er beabsichtigt mit einer Klage gegen die Herstellerin, Schadensersatzansprüche (§§ 823 Abs. 2, 826 BGB) gerichtet auf Rückabwicklung des Kaufvertrages geltend zu machen.
Der Kläger wirft der Herstellerin vor, die Verantwortlichen hätten das von ihm erworbene Fahrzeug mit unzulässigen Abschalteinrichtungen im Sinne des Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007, insbesondere einem Thermofenster, ausgestattet und ihn dadurch vorsätzlich und sittenwidrig geschädigt.
Die Beklagte hat die erbetene Kostenzusage mit Schreiben vom 16.02.2021 abgelehnt, weil weder ein Rechtsverstoß vorliege noch Erfolgsaussichten in der Sache bestünden.
Das Landgericht Dortmund hat die Deckungsschutzklage abgewiesen (Urt. v. 04.01.2023 - 7 O 20/22).
Das OLG Hamm hat das erstinstanzliche Urteil abgeändert und u.a. festgestellt, dass die Beklagte aus dem Versicherungsvertrag verpflichtet ist, die Kosten der erstinstanzlichen Geltendmachung von deliktischen Schadensersatzansprüchen und der behaupteten Manipulation der Abgassteuerung aus einem Streitwert von bis zu 38.848,89 € zu tragen (Urt. v. 12.06.2023 - 6 U 22/23).
Dagegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision der Beklagten, mit der sie ihr Begehren auf vollständige Klageabweisung weiterverfolgt.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Der BGH hat die Revision des Versicherers zurückgewiesen.
Erfolgt nach dem Zeitpunkt der sogenannten Bewilligungsreife eine Klärung der Rechtslage durch die höchstrichterliche Rechtsprechung (hier durch den EuGH) zugunsten des Versicherungsnehmers, sind für die Beurteilung des Deckungsschutzanspruchs die Erfolgsaussichten der beabsichtigten Klage im Zeitpunkt des Schlusses der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht maßgeblich.
Für die Frage, ob die beabsichtigte Wahrnehmung der rechtlichen Interessen des Versicherungsnehmers hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, ist zwar grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Deckungsgesuchs, d.h. auf den Zeitpunkt, in dem der Rechtsschutzversicherer seine Entscheidung trifft (hier Dezember 2021), abzustellen.
Treten aber - wie hier - zwischen der ablehnenden Entscheidung des Deckungsschutzantrags und der gerichtlichen Entscheidung über eine Deckungsklage Änderungen in der Beurteilung der Erfolgsaussichten ein, die sich zugunsten des Rechtsschutzsuchenden auswirken und die nach dem einschlägigen Fachrecht zu berücksichtigen sind, sind diese bei der Prüfung der Erfolgsaussichten zu beachten.
Das Berufungsgericht hat im Streitfall daher zu Recht bei der Prüfung der Erfolgsaussichten die nach dem Zeitpunkt der Deckungsablehnung ergangene, dem klagenden Versicherungsnehmer günstige Entscheidung des EuGH (Urt. v. 21.03.2023 - C- 00/21) berücksichtigt, wonach Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46/EG (Rahmenrichtlinie) i.V.m. Art. 5 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 715/2007 die Einzelinteressen des individuellen Käufers eines Kraftfahrzeugs schützen können.
Das Berufungsgericht hat auch rechtsfehlerfrei entschieden, dass die vom Kläger beabsichtigte gerichtliche Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen Aussicht auf Erfolg hat.
Zum Zeitpunkt des Ablaufs der bis zum 15.05.2023 festgesetzten Schriftsatzfrist, die dem Schluss der mündlichen Verhandlung entspricht, ist das Berufungsgericht unter Berücksichtigung der genannten Entscheidung des EuGH ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass die Annahme eines fälligen Schadensersatzanspruchs jedenfalls nicht unvertretbar erschien.
Zu diesem Zeitpunkt bedurften die Einzelheiten der Voraussetzungen und der Modalitäten eines solchen Schadensersatzanspruchs noch einer weiteren Klärung, die erst durch die Urteile des Bundesgerichtshofs vom 26.06.2023 erfolgte.
Soweit sich aus den neueren Entscheidungen des BGH ergeben könnte, dass dem Kläger der geltend gemachte Schadensersatzanspruch nicht oder nur im geringeren Umfang zusteht, führt dies hier zu keinem anderen Ergebnis, weil das Berufungsgericht zum Zeitpunkt des Erlasses seines Urteils die weitere Entwicklung der Rechtsprechung nicht absehen konnte.
BGH, Urt. v. 05.06.2024 - IV ZR 140/23
Quelle: BGH, Pressemitteilung v. 05.06.2024