Prozessunterlagen müssen gem. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nur dann nicht in Blindenschrift zugänglichgemacht werden, wenn die Vermittlung durch den Rechtsanwalt für den Betroffenen gleichwertig ist. Das hat das Bundesverfassungsgericht im Fall einer sehbehinderten Frau entschieden, die die Prozessunterlagen eines Zivilrechtsstreits auch in Blindenschrift erhalten wollte.
Darum geht es
Aus dem Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG folgt der Auftrag, Menschen mit Behinderung so zu stellen, dass ihnen gleichberechtigte Teilhabe wie Menschen ohne Behinderung ermöglicht wird. Eine anwaltlich vertretene Person kann bei übersichtlichem Streitstoff grundsätzlich auf die Kenntnisvermittlung durch ihren Rechtsanwalt verwiesen werden.
Die Fürsorgepflicht des Gerichts erfordert es aber, die Prozessunterlagen gleichwohl in Blindenschrift zugänglich zu machen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Vermittlung durch den Rechtsanwalt nicht gleichwertig mit der unmittelbaren Kenntnis ist.
Der Beschwerdeführer ist sehbehindert und beantragte in einem zivilgerichtlichen Berufungsverfahren, die Prozessunterlagen auch in Blindenschrift zu erhalten. Das Landgericht wies den Antrag zurück. Die zugelassene Rechtsbeschwerde blieb vor dem BGH ohne Erfolg.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erschöpft sich nicht in der Anordnung, Menschen mit und ohne Behinderung rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch vorliegen, wenn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Vergleich zu derjenigen nichtbehinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird.
Gesetzgeber und Rechtsprechung sind daher gefordert, bei Gestaltung und Auslegung der Verfahrensordnungen der spezifischen Situation einer Partei mit Behinderung so Rechnung zu tragen, dass ihre Teilhabemöglichkeit der einer Partei ohne Behinderung gleichberechtigt ist.
Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen im Ergebnis gerecht. Die Verfassungsbeschwerde wird daher nicht zur Entscheidung angenommen.
Es ist zumindest dann mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vereinbar, eine sehbehinderte Partei für den Zugang zu den Prozessunterlagen auf eine Vermittlung durch ihren Rechtsanwalt zu verweisen, wenn der Streitstoff übersichtlich ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass seine Vermittlung dennoch nicht in einer Art und Weise erfolgt, die der unmittelbaren Zugänglichmachung gleichwertig ist.
Mit § 191a Abs. 1 Gerichtsverfassungsgesetz in der hier maßgeblichen Fassung bis 30.06.2014 und mit § 4 Abs. 1 der Zugänglichmachungsverordnung steht eine solche Beschränkung des Anspruchs im Einklang. Der rechtliche Ausgangspunkt des Bundesgerichtshofs, wonach bei einer anwaltlichen Vertretung der berechtigten Person ein Anspruch auf Zugänglichmachung ausgeschlossen sein kann, ist mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vereinbar.
Eine gleichberechtigte Teilhabe am Prozess setzt nicht zwangsläufig voraus, dass der sehbehinderten Partei die Prozessunterlagen in Blindenschrift vorliegen müssen. Ist der Streitstoff übersichtlich und die Partei anwaltlich vertreten, so ist grundsätzlich die Annahme gerechtfertigt, dass ihr der Prozessgegenstand ohne Informationsverlust und ohne eine Beschränkung ihrer Teilhabemöglichkeit von ihrem Rechtsanwalt vermittelt wird, zumal ihre Unterrichtung zu seinen Pflichten gehört.
Die aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG folgende Verantwortung der Gerichte für die gleichberechtigte Teilhabemöglichkeit einer Person mit Behinderung endet - über die Entscheidung des Bundesgerichtshofs hinaus - aber nicht damit, dass sie durch einen Rechtsanwalt vertreten wird. Einem Verlangen auf Zugänglichmachung des Prozessstoffs ist daher weitergehend auch dann zu entsprechen, wenn dem Gericht Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Vermittlung trotz der Beschränktheit des Streitstoffs nicht in einer Art und Weise erfolgt, die der unmittelbaren Zugänglichmachung gleichwertig ist.
Damit ist zugleich der Möglichkeit einer sehbehinderten Person zur Überwachung ihres Prozessbevollmächtigten in angemessener Weise Rechnung getragen. Kommt dieser seiner Pflicht zur Kenntnisverschaffung nicht in ausreichender Weise nach, kann sie dies dem Gericht gegenüber vortragen und (erneut) die Zugänglichmachung der Prozessunterlagen verlangen; bei entsprechenden Anhaltspunkten muss das Gericht im Rahmen seiner Fürsorgepflicht dies von selbst veranlassen.
Die Entscheidung, ob von einer unmittelbaren Zugänglichmachung der Prozessunterlagen abgesehen werden kann, obliegt grundsätzlich den Fachgerichten und ist einer nur eingeschränkten Kontrolle durch das Verfassungsgericht zugänglich. Im Streitfall begegnet sie keinen Bedenken. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Streitstoff so übersichtlich, dass er dem Beschwerdeführer durch seinen Rechtsanwalt gut vermittelbar war.
Wenn Landgericht und BGH daher davon ausgegangen sind, dass eine Zugänglichmachung der Prozessunterlagen auch in einer für den Beschwerdeführer unmittelbar wahrnehmbaren Form nicht erforderlich war, ist dies nicht zu beanstanden.
Anhaltspunkte für eine gleichwohl nur unzureichende Kenntnisvermittlung durch seinen Prozessbevollmächtigten sind nicht ersichtlich und werden von dem Beschwerdeführer auch nicht dargelegt. Sein allgemeiner Hinweis, dass er nicht die gleiche Möglichkeit gehabt habe, die Tätigkeit seines Bevollmächtigten zu überwachen, genügt insoweit nicht.
BVerfG, Beschl. v. 10.10.2014 - 1 BvR 856/13
Quelle: BVerfG, Pressemitteilung v. 31.10.2014