Um die familiengerichtliche Praxis zu überprüfen, hat das Bundesministerium der Justiz im März 2006 die Arbeitsgruppe „Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“ eingesetzt.
Der Abschlussbericht der Arbeitsgruppe, der Experten aus den Familiengerichten sowie der Kinder- und Jugendhilfe angehörten, wird in Kürze vorliegen. Die Eckpunkte wurden bereits jetzt veröffentlicht.
Abbau von „Tatbestandshürden“ für die Anrufung der Familiengerichte
Nach geltendem Recht setzen familiengerichtliche Maßnahmen, die in die elterliche Sorge eingreifen, voraus, dass die Eltern in der Erziehung versagen, das Wohl des Kindes dadurch gefährdet wird und die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden (§ 1666 Abs. 1 BGB). Die Arbeitsgruppe spricht sich dafür aus, die Voraussetzung des „elterlichen Erziehungsversagens“ zu streichen. Dadurch soll es dem Gericht erleichtert werden, Maßnahmen gegenüber den Eltern zu treffen und zu begründen. Gleichzeitig sollen für die Jugendämter mögliche „Hürden“ bei der Anrufung der Familiengerichte abgebaut werden. Die Änderung soll außerdem der Gefahr entgegenwirken, dass Eltern auf Grund des Vorwurfs des „Erziehungsversagens“ nicht mehr kooperieren. Notwendige, aber auch ausreichende Tatbestandsvoraussetzungen bleiben die Gefährdung des Kindeswohls sowie die Unwilligkeit oder Unfähigkeit der Eltern, die Gefahr abzuwenden.
Konkretisierung der möglichen Rechtsfolgen
Das Familiengericht hat die zur Abwendung der Gefahr „erforderlichen Maßnahmen“ zu treffen (§ 1666 Abs. 1 BGB). Die gerichtliche Reaktion beschränkt sich in der Praxis ganz überwiegend darauf, den Eltern das Sorgerecht ganz oder teilweise zu entziehen. Die Arbeitsgruppe schlägt daher vor, die Rechtsfolgen des § 1666 BGB durch eine beispielhafte Aufzählung zu konkretisieren. Dadurch soll den Familiengerichten und Jugendämtern die ganze Bandbreite möglicher Maßnahmen – auch unterhalb der Schwelle der Sorgerechtsentziehung – verdeutlicht werden. Der Vorschlag soll zum Schutz der Kinder die frühzeitige Anrufung der Familiengerichte fördern. Als mögliche Rechtsfolgen nennt § 1666 BGB u. a. Weisungen an die Eltern, öffentliche Hilfen in Anspruch zu nehmen, wie etwa Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe (z. B. Erziehungsberatung, soziale Trainingskurse) und der Gesundheitsfürsorge (z. B. Vorsorgeuntersuchungen), sowie für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen.
Erörterung der Kindeswohlgefährdung („Erziehungsgespräch“)
Die Arbeitsgruppe hält es für sachgerecht, durch ein sog. „Erziehungsgespräch“ die Eltern noch stärker als bisher in die Pflicht zu nehmen und auf sie einzuwirken, öffentliche Hilfen in Anspruch zu nehmen und mit dem Jugendamt zu kooperieren. Es ist Aufgabe der Gerichte, in diesem Gespräch den Eltern den Ernst der Lage vor Augen zu führen, darauf hinzuwirken, dass sie notwendige Leistungen der Jugendhilfe annehmen und auf mögliche Konsequenzen (ggf. Entzug des Sorgerechts) hinzuweisen. Diese Möglichkeit besteht schon nach geltendem Recht, wird aber in der Praxis kaum genutzt. In das Gespräch soll regelmäßig auch das Jugendamt eingebunden werden.
Überprüfung nach Absehen von gerichtlichen Maßnahmen
Bislang ist das Familiengericht, das in einem Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung keine Maßnahme anordnet, nicht verpflichtet, diese Entscheidung später noch einmal zu überprüfen. Nach dem Vorschlag der Arbeitsgruppe soll das Gericht in angemessenem Zeitabstand überprüfen, ob seine Entscheidung unverändert richtig ist.
Schnellere Gerichtsverfahren
Die Arbeitsgruppe spricht sich für ein gesetzliches Beschleunigungsgebot in Verfahren wegen Gefährdung des Kindeswohls aus, nach dem diese Verfahren vorrangig durchzuführen sind.
Zusammenarbeit der Familiengerichte mit Jugendämtern und anderen Institutionen
Effektiver Kindesschutz setzt voraus, dass Familiengerichte und Jugendämter konstruktiv zusammenwirken. Einen wesentlichen Beitrag dazu können örtliche Arbeitskreise leisten, in denen Fragen der Kooperation fallübergreifend erörtert werden. Die Arbeitsgruppe schlägt daher vor, die Träger der öffentlichen Jugendhilfe dazu zu verpflichten, solche Arbeitskreise zu bilden. Neben den Jugendamtsmitarbeitern und Familienrichtern sind weitere mögliche Teilnehmer an den Arbeitskreisen Jugendrichter, Jugendstaatsanwälte, Polizisten, Rechtsanwälte und Lehrer.
Anrufung der Familiengerichte durch die Schulen
Tritt in der Schule der Verdacht einer Kindeswohlgefährdung auf (z. B bei Schulverweigerung), wendet sich die Schule in der Regel an das Jugendamt, das ggf. seinerseits das Familiengericht anruft. Die Arbeitsgruppe weist jedoch ausdrücklich auf die Möglichkeit hin, dass Schulen sich auch unmittelbar an das Familiengericht wenden können. Die Arbeitsgruppe appelliert an die Schulverwaltungen, dass diese ihre Schulleiter und Lehrer über die rechtlichen Möglichkeiten und die verschiedenen Ansprechpartner bei Kindeswohlgefährdungen informieren.
Mehr Rechtssicherheit in Fällen von „geschlossener“ Unterbringung
Im Einzelfall kann es als letztes pädagogisches Mittel erforderlich werden, das Kind oder den Jugendlichen freiheitsentziehend unterzubringen. Hierfür bedarf es einer gerichtlichen Genehmigung (§ 1631b BGB). Nach den Feststellungen der Arbeitsgruppe sind die Übergänge zwischen „offenen“ und „geschlossenen“ Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zunehmend fließend, was die alte Polarisierung zwischen „offener“ und „geschlossener“ Unterbringung in der Praxis deutlich relativiert. Maßgeblich ist vielmehr der pädagogische Umgang mit den Kindern und Jugendlichen. Der Bericht geht auf erfolgreiche Konzepte ausführlich ein. Über die Anwendung und die Voraussetzungen der gerichtlichen Genehmigung von „geschlossenen“ Unterbringungen bestehen in der Praxis Unsicherheiten. Die Arbeitsgruppe schlägt daher vor, die entsprechenden Regelungen zu konkretisieren.
Quelle: BMJ - Pressemitteilung vom 13.11.06