Arbeitsrecht, Sozialrecht -

Wann ist die Ausbildungsvergütung angemessen?

Auszubildende haben Anspruch auf eine angemessene Vergütung. Tarifliche Ausbildungsvergütungen sind regelmäßig angemessen. Aber auch ein Unterschreiten der tariflichen Vergütung muss nicht unangemessen sein. Wird die tarifliche Ausbildungsvergütung allerdings erheblich unterschritten, ist dies nur bei bestimmten mit der Ausbildung verfolgten Zwecken zulässig. Das hat das BAG entschieden.

Sachverhalt

Ein eingetragener Verein (e.V.) verfolgte den Zweck der Förderung der qualifizierten Berufsausbildung. Hierzu schloss er mit Auszubildenden Berufsausbildungsverträge. Die Ausbildung wurde jeweils von einem Mitgliedsunternehmen auf der Grundlage eines Ausbildungsübernahmevertrags durchgeführt, der auch die sogenannte Gestellung der Auszubildenden an das Unternehmen regelte. Die beiden Vorstände dieses Vereins waren gleichzeitig die Vorstände der K AG, einem Mitglied im AGV Metall- und Elektroindustrie. Die K AG stellte ebenfalls Auszubildende ein.

Ein 17-jähriges IG Metall-Mitglied, das über einen Realabschluss verfügte, wurde nach einem Vorstellungsgespräch bei der K AG von ihr an den Verein vermittelt, mit dem dieser einen Berufsausbildungsvertrag schloss. Als Ausbildungsort wurde der Betrieb der K AG vereinbart. Der Auszubildende erhielt für den Zeitraum vom 01.08.2010 bis zum 31.12.2012 vom Verein eine Ausbildungsvergütung, die die entsprechende tarifliche Ausbildungsvergütung für diesen Zeitraum um ca. 45 % unterschritt.

Unter dem 14.12.2012 vereinbarten die Parteien einen geänderten Berufsausbildungsvertrag, der u.a. folgende Ausschlussfristenregelung vorsah:

„Alle Ansprüche aus dem Berufsausbildungsverhältnis und solche, die damit in Verbindung stehen, verfallen, wenn sie nicht innerhalb von 3 Monaten nach Fälligkeit gegenüber der anderen Vertragspartei schriftlich geltend gemacht worden sind. Dies gilt nicht, soweit wegen Vorsatzes gehaftet wird.“

Der Auszubildende hat gegenüber dem Verein mit einer Klage, die am 24.01.2013 zugestellt wurde, die Zahlung weiterer 11.762 € brutto geltend gemacht. Er hat darauf verwiesen, dass bei ihm keine besonderen Ausbildungserschwernisse vorgelegen hätten.

Das ArbG Gera hat der Klage mit Urteil vom 10.10.2013 (3 Ca 61/13) stattgegeben. Das LAG  Thüringen hat die Berufung des Beklagten mit Urteil vom 20.04.2016 (6 Sa 71/14) zurückgewiesen. Die (zugelassene) Revision des Beklagten hat das BAG zurückgewiesen.

Wesentliche Aussagen der Entscheidung

Nach § 17 Abs. 1 S. 1 BBiG haben Auszubildende Anspruch auf eine angemessene Vergütung. Das Ergebnis von Tarifverhandlungen hat die Vermutung der Angemessenheit für sich. Eine entsprechende vertragliche Ausbildungsvergütung gilt stets als angemessen.

Eine Ausbildungsvergütung ist hingegen grundsätzlich nicht angemessen, wenn sie die in einem einschlägigen Tarifvertrag enthaltenen Vergütungen um mehr als 20 % unterschreitet. Die Berücksichtigung der einschlägigen Tarifverträge bei der Feststellung der Angemessenheit der Ausbildungsvergütung stellt keine Erstreckung der Tarifnormen auf Außenseiter dar.

Eine Unterschreitung der allgemeinen Angemessenheitsgrenze ist nur im Falle der fremdnützigen Ausbildung zulässig, die für den Ausbildenden mit keinen finanziellen Vorteilen verbunden ist. Der Berufsausbildungsvertrag muss dem konkreten Auszubildenden eine qualifizierte Ausbildung ermöglichen, die ihm anderenfalls verschlossen geblieben wäre. Dazu muss der Unterstützungs- und Förderungsbedarf gerade in der Person des Auszubildenden begründet sein.

Im vorliegenden Fall will der Beklagte zwar zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen, um damit die Jugendlichen zu fördern, die auf dem freien Arbeitsmarkt potenziell Probleme hätten. Mit diesem Zweck verfolgt der Beklagte keine eigenen wirtschaftlichen Interessen.

Grundsätzlich kann eine Ausbildungsvergütung auch bei deutlichem Unterschreiten der einschlägigen tariflichen Vergütung noch angemessen sein, wenn ein Ausbildender zusätzliche Ausbildungskapazitäten zur Verfügung stellt, um Jugendlichen mit Zugangshindernissen zum Ausbildungsmarkt besondere Chancen zu eröffnen, und diese Kapazitäten nicht eigenwirtschaftlich nutzen kann.

Der Beklagte hat aber weder näher begründet, warum der Kläger ohne die Hilfe des Beklagten voraussichtlich keinen Ausbildungsplatz erhalten hätte, noch aufgezeigt, dass der Kläger während der Ausbildung besonderer Unterstützung und Förderung durch den Beklagten bedurft habe. Damit fehlt es am notwendigen Unterstützungs- und Förderungsbedarf gerade in der Person des Auszubildenden.

Die Ausschlussfrist bewirkte nicht den (rückwirkenden) Ausschluss der entstandenen Vergütungsansprüche. Der Kläger hat binnen drei Monaten nach Abschluss des neuen Berufsausbildungsvertrags seine Ansprüche klageweise geltend gemacht.

Folgerungen aus der Entscheidung

Das BAG entwickelt seine Rechtsprechung zur Angemessenheit der Ausbildungsvergütung weiter. Es betonte, dass ein Abweichen von der angemessenen Ausbildungsvergütung nur durch den Zweck gerechtfertigt sein kann, den der Ausbildungsträger verfolgt. Auf die Finanzierung des Ausbildenden (öffentliche Gelder, Spenden o. Ä.) kommt es hingegen nicht an. Die Entscheidung ermöglicht die genaue Differenzierung zwischen der gemeinnützigen Förderung der Belange benachteiligter Auszubildender und missbräuchlichen Gestaltungen, durch die Jugendliche in außerbetriebliche Ausbildungen gedrängt und die zwingenden gesetzlichen Vorgaben in § 17 Abs. 1 BBiG umgangen werden.

Praxishinweis

Auszubildende sind keine Arbeitnehmer i.S.d. AÜG. Die „Gestellung“ von Auszubildenden ist also genehmigungsfrei und insbesondere nicht dem Grundsatz der Gleichstellung nach § 8 AÜG unterworfen. Auch hinsichtlich der Frage der angemessenen Vergütung unterscheiden sich Ausbildung und Arbeitsverhältnis. Nimmt das BAG Lohnwucher erst bei Unterschreitung der üblichen – i.d.R. der tariflichen – Vergütung um mehr als 1/3 an, ist eine Ausbildungsvergütung regelmäßig bereits unangemessen, wenn sie die tarifliche Ausbildungsvergütung um mehr als 20 % unterschreitet.

BAG, Urt. v. 16.05.2017 - 9 AZR 377/16

Quelle: Rechtsanwalt und FA für Arbeitsrecht Dr. Martin Kolmhuber