Die Durchführung einer Beweisaufnahme im Dienstzimmer des Vorsitzenden Richters ist grundsätzlich zulässig. Das hat das BAG im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses entschieden. Wird der Ort der mündlichen Verhandlung aufgrund eines Beschlusses verlegt, muss der neue Ort der Öffentlichkeit bekanntgegeben werden. Diese Bekanntgabe kann nur am ursprünglichen Ort erfolgen.
Sachverhalt
Ein Arbeitnehmer war seit 1989 als Tankwart und Verkäufer in einem Kleinbetrieb mit nicht mehr als zehn regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmern angestellt. Der Besitzer der Tankstelle überwachte den Arbeitsplatz durch Videokameras. Aufgrund der Auswertung der Videoaufzeichnungen stellte er fest, dass der Tankwart ihn mehrfach bestohlen hatte, indem er Brezeln und Croissants ohne Bezahlung verzehrte. Der Arbeitgeber sprach daraufhin eine außerordentliche und fristlose Kündigung aus. Das ArbG Freiburg hat der dagegen gerichteten Klage mit Urteil vom 02.06.2015 (2 Ca 516/14) stattgegeben.
Auf die Berufung des beklagten Arbeitgebers hin hat das LAG Baden-Württemberg die zur Akte gereichten Videoaufzeichnungen in öffentlicher Verhandlung am 28.10.2015 in Augenschein genommen. In der Verhandlung erklärte der Beklagte, aus einem weiteren Video ergebe sich, dass der Kläger am 22.11.2014 eine Schokoladenpraline an sich genommen und sich in diesem Zusammenhang umgeschaut habe. Dieses Video war auf einem USB-Stick gespeichert. Auch dieses Video wurde noch am selben Tag von der Kammer in Anwesenheit der Parteien in Augenschein genommen. Das LAG Baden-Württemberg hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 29.12.2015 (10 Sa 32/15) zurückgewiesen.
Auf Antrag des Beklagten berichtigte das LAG mit Beschluss vom 07.06.2016 das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 28.10.2015. Ausweislich des berichtigten Protokolls erfolgte die Inaugenscheinnahme des Videos, das auf dem USB-Stick gespeichert war, im Dienstzimmer des Vorsitzenden Richters der erkennenden Kammer. Auf der Terminsrolle erfolgte kein Hinweis auf die Verlegung des Verhandlungsorts. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten hin hat das BAG das Urteil des LAG aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Wesentliche Aussagen der Entscheidung
Der absolute Revisionsgrund der Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit liegt vor. Das führt in analoger Anwendung von § 72a Abs. 7 ArbGG zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung an das LAG zur neuen Verhandlung und Entscheidung.
Gemäß § 52 S. 1 ArbGG sind die Verhandlungen vor dem Arbeitsgericht öffentlich. Das gilt ausdrücklich auch für die Beweisaufnahme. Der Grundsatz der Öffentlichkeit verlangt, dass jedermann bei der Sitzung anwesend sein kann. Erforderlich ist weiterhin, dass sich jeder Interessierte ohne besondere Schwierigkeit Kenntnis von Ort und Zeit der Sitzung verschaffen kann.
Wird eine Verhandlung oder Beweisaufnahme an einem anderen Ort als dem Sitzungssaal fortgesetzt, ist deshalb sicherzustellen, dass auch unbeteiligte Personen Ort und Zeit der Weiterverhandlung ohne besondere Schwierigkeiten erfahren können. Im Regelfall ist es erforderlich, dass Ort und Zeit des neuen Verhandlungsorts in öffentlicher Sitzung verkündet und durch einen Hinweis am Gerichtssaal bekannt gemacht werden.
Nach diesen Grundsätzen war der Öffentlichkeitsgrundsatz nicht bereits durch die Fortsetzung der Beweisaufnahme im Dienstzimmer des Vorsitzenden der Kammer verletzt. Die Verkündung der Verlegung des Orts der Beweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung reicht hingegen nicht aus, um die Informationsmöglichkeit der Öffentlichkeit sicherzustellen.
Das Gebot der Öffentlichkeit dient durch seine Kontrollfunktion auch der Verfahrensfairness. Die Öffentlichkeit kann ihre Kontrollfunktion nur ausüben, wenn sie ohne besondere Schwierigkeit davon Kenntnis erlangen kann, an welcher Stelle im Gericht oder außerhalb des Gerichts die Verhandlung stattfindet. Geht es um die Verlegung einer am Vormittag und damit zu einer für Gerichtsverhandlungen üblichen Zeit stattfindenden Beweisaufnahme als zentraler Bestandteil der Verhandlung und gerichtlichen Entscheidungsfindung, ist zumindest ein für jedermann erkennbarer Hinweis, dass und wo die Beweisaufnahme stattfindet bzw. fortgesetzt wird, am Eingang des Sitzungssaals zur Wahrung des Grundsatzes der Öffentlichkeit unentbehrlich.
Der Beschwerdeführer hat nicht auf die Rüge des absoluten Revisionsgrundes des § 547 Nr. 5 ZPO verzichtet, weil er die Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes nicht bereits in der mündlichen Verhandlung gerügt, sondern weiterverhandelt hat. Ausgehend vom Zweck des Öffentlichkeitsgrundsatzes kann auf dessen Einhaltung im arbeitsgerichtlichen Verfahren nicht verzichtet werden. Das Gesetz stellt mit der Einordnung einer Verletzung der Vorschrift über die Öffentlichkeit als absoluten Revisionsgrund eine unwiderlegbare Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Verletzung auf.
Folgerungen aus der Entscheidung
Das BAG referiert die einhellige Auffassung in Rechtsprechung und Literatur zu Zweck und Inhalt des Grundsatzes der Öffentlichkeit. Das ist nichts Neues und dem ist auch nichts hinzuzufügen. Wird der Ort der mündlichen Verhandlung während derselben aufgrund eines Beschlusses verlegt, muss der neue Ort der Öffentlichkeit bekanntgegeben werden. Diese Bekanntgabe kann nur am ursprünglichen Ort der mündlichen Verhandlung erfolgen.
Praxishinweis
Es kommt in der Praxis gelegentlich vor, dass mündliche Verhandlungen im Dienstzimmer des Vorsitzenden Richters stattfinden. Grundsätzlich ist das kein Problem, sofern es ausreichend dimensioniert ist und der Ort ordnungsgemäß bekanntgegeben wird. Die Parteien sollten aber unbedingt auf eine detaillierte Protokollierung jeder Verlegung des Verhandlungsorts hinwirken, um ggf. eine Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit erfolgreich rügen zu können.
BAG, Beschl. v. 22.09.2016 - 6 AZN 376/16
Quelle: Rechtsanwalt und FA für Arbeitsrecht Dr. Martin Kolmhuber