Das Bundesverfassungsgericht hat ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts aufgehoben, das die Kündigung eines Chefarztes im Krankenhaus eines katholischen Trägers nach dessen Wiederverheiratung für unwirksam erklärt hatte. In ihrer Entscheidung haben die Karlsruher Verfassungshüter ihre Rechtsprechung zum kirchlichen Arbeitsrecht bestätigt aber auch weiter konkretisiert.
Darum geht es
Die Beschwerdeführerin ist kirchliche Trägerin eines katholischen Krankenhauses. Seit dem 01.01.2000 beschäftigt sie den Kläger des Ausgangsverfahrens als Chefarzt der Abteilung Innere Medizin, der zu diesem Zeitpunkt nach katholischem Ritus in erster Ehe verheiratet war. Ende 2005 trennten sich die Ehepartner. {DB:tt_content:2566:bodytext}
Zwischen 2006 und 2008 lebte der Kläger mit einer neuen Lebensgefährtin zusammen; dies war dem damaligen Geschäftsführer der Beschwerdeführerin spätestens seit Herbst 2006 bekannt. Anfang 2008 wurde die erste Ehe des Klägers nach staatlichem Recht geschieden. Im August 2008 heiratete der Kläger seine Lebensgefährtin standesamtlich. Hiervon erfuhr die Beschwerdeführerin im November 2008.
In der Folgezeit fanden zwischen der Beschwerdeführerin und dem Kläger mehrere Gespräche über die Auswirkungen seiner zweiten Heirat auf den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses statt. Im März 2009 kündigte die Beschwerdeführerin das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 30.09.2009. Hiergegen erhob der Kläger Kündigungsschutzklage.
Mit Urteil vom 30.07.2009 stellte das Arbeitsgericht fest, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung aufgelöst worden sei und verurteilte die Beschwerdeführerin zur Weiterbeschäftigung des Klägers. Berufung und Revision der Beschwerdeführerin blieben im Ergebnis ohne Erfolg.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Soweit sich die Schutzbereiche der Glaubensfreiheit und der inkorporierten Artikel der Weimarer Reichsverfassung überlagern, geht Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV als speziellere Norm Art. 4 Abs. 1 und 2 GG insoweit vor, als er das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften der Schranke des für alle geltenden Gesetzes unterwirft (sogenannte Schrankenspezialität).
Bei der Anwendung des für „alle geltenden Gesetzes“ (vgl. Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV) durch die staatlichen Gerichte ist bei Ausgleich gegenläufiger Interessen aber dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Art. 4 Abs. 1 und 2 GG die korporative Religionsfreiheit vorbehaltlos gewährleistet und insofern dem Selbstbestimmungsrecht und dem Selbstverständnis der Religionsgesellschaften besonderes Gewicht zuzumessen ist.
Aus Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1 und 4, 137 Abs. 1 WRV, Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 3 Abs. 3 Satz 1 und Art. 33 Abs. 2 GG folgt eine Pflicht des Staates zur weltanschaulich-religiösen Neutralität, die Grundlage des modernen, freiheitlichen Staates ist. Diese verwehrt es dem Staat, Glauben und Lehre einer Kirche oder Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten. Die Eigenständigkeit der kirchlichen Rechtsordnung hat er zu respektieren. Träger des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts sind nicht nur die Kirchen selbst, sondern alle ihr zugeordneten Institutionen, Gesellschaften, Organisationen und Einrichtungen, wenn und soweit sie nach dem glaubensdefinierten Selbstverständnis der Kirchen entsprechend ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe berufen sind, Auftrag und Sendung der Kirchen wahrzunehmen und zu erfüllen.
Dies gilt unbeschadet der Rechtsform der einzelnen Einrichtung auch dann, wenn der kirchliche Träger sich privatrechtlicher Organisationsformen bedient. Die Kirchen können die jedermann offen stehenden privatautonomen Gestaltungsformen nutzen, Dienstverhältnisse begründen und nach ihrem Selbstverständnis ausgestalten. Ganz überwiegend der Gewinnerzielung dienende Organisationen und Einrichtungen können das Privileg der Selbstbestimmung allerdings nicht in Anspruch nehmen, da bei ihnen der enge Konnex zum glaubensdefinierten Selbstverständnis aufgehoben ist.
Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthält ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht. Dieses beinhaltet neben der Freiheit des Einzelnen zum privaten und öffentlichen Bekenntnis seiner Religion oder Weltanschauung auch die Freiheit, sich mit anderen aus gemeinsamem Glauben oder gemeinsamer weltanschaulicher Überzeugung zusammenzuschließen. Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als korporative Ausübung von Religion und Weltanschauung anzusehen ist, muss der zentralen Bedeutung des Begriffs der „Religionsausübung“ durch eine extensive Auslegung Rechnung getragen werden.
Nach dem Selbstverständnis der christlichen Kirchen umfasst die Religionsausübung nicht nur den Bereich des Glaubens und des Gottesdienstes, sondern auch die Freiheit zur Entfaltung und Wirksamkeit des christlichen Sendungsauftrages in Staat und Gesellschaft. Dazu gehört insbesondere das karitative Wirken. d) Zu dem „für alle geltenden Gesetz“ im Sinne des Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV, unter dessen Vorbehalt die inhaltliche Gestaltungsfreiheit des kirchlichen Arbeitgebers für die auf Vertragsebene begründeten Arbeitsverhältnisse steht, zählen die Regelungen des allgemeinen Kündigungsschutzes.
Die in diesen Vorschriften enthaltenen Generalklauseln bedürfen der Ausfüllung im konkreten Einzelfall. Arbeits- und Kündigungsschutzgesetze sind einerseits im Lichte der verfassungsrechtlichen Wertentscheidung zugunsten der kirchlichen Selbstbestimmung auszulegen; andererseits darf dies nicht dazu führen, dass Schutzpflichten des Staates gegenüber den Arbeitnehmern (Art. 12 Abs. 1 GG) und die Sicherheit des Rechtsverkehrs vernachlässigt werden.
Die staatlichen Gerichte haben auf einer ersten Prüfungsstufe zunächst im Rahmen einer Plausibilitätskontrolle auf der Grundlage des glaubensdefinierten Selbstverständnisses der verfassten Kirche zu überprüfen, ob eine Organisation oder Einrichtung an der Verwirklichung des kirchlichen Grundauftrags teilhat, ob eine bestimmte Loyalitätsobliegenheit Ausdruck eines kirchlichen Glaubenssatzes ist und welches Gewicht dieser Loyalitätsobliegenheit und einem Verstoß hiergegen nach dem kirchlichen Selbstverständnis zukommt.
Dabei dürfen sie die Eigenart des kirchlichen Dienstes - das kirchliche Proprium - nicht außer Acht lassen. Welche kirchlichen Grundverpflichtungen als Gegenstand des Arbeitsverhältnisses bedeutsam sein können, richtet sich alleine nach den von der verfassten Kirche anerkannten Maßstäben. Die staatlichen Gerichte dürfen sich nicht über sie hinwegsetzen, solange sie nicht in Widerspruch zu grundlegenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen stehen.
Im Rahmen der allgemeinen Justizgewährungspflicht sind sie lediglich berechtigt, die Darlegungen des kirchlichen Arbeitgebers auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen. Zweifelsfragen haben sie durch Rückfragen bei den zuständigen Kirchenbehörden oder, falls dies ergebnislos bleibt, durch ein kirchenrechtliches oder theologisches Sachverständigengutachten aufzuklären.
Auf einer zweiten Prüfungsstufe ist sodann unter dem Gesichtspunkt der Schranken des „für alle geltenden Gesetzes“ eine Gesamtabwägung vorzunehmen. Dies setzt zunächst die positive Feststellung voraus, dass der Arbeitnehmer sich der ihm vertraglich auferlegten Loyalitätsanforderungen und der Möglichkeit arbeitsrechtlicher Sanktionierung von Verstößen bewusst war oder hätte bewusst sein müssen.
In der Abwägung ist sodann ein Ausgleich der - im Lichte des Selbstbestimmungsrechts verstandenen - kirchlichen Belange und der korporativen Religionsfreiheit mit den Grundrechten der betroffenen Arbeitnehmer und deren in den allgemeinen arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen enthaltenen Interessen vorzunehmen. Die kollidierenden Rechtspositionen sind - nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz - in möglichst hohem Maße zu verwirklichen.
Das einschränkende arbeitsrechtliche Gesetz muss im Lichte des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts betrachtet werden, wie umgekehrt die Bedeutung kollidierender Rechte des Arbeitnehmers im Verhältnis zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht gewichtet werden muss. Dem Selbstverständnis der Kirche ist dabei ein besonderes Gewicht beizumessen, ohne dass die Interessen der Kirche die Belange des Arbeitnehmers dabei prinzipiell überwögen. Das staatliche Arbeitsrecht lässt „absolute Kündigungsgründe“ nicht zu; eine Verabsolutierung von Rechtspositionen ist der staatlichen Rechtsordnung jenseits des Art. 1 Abs. 1 GG fremd.
Ob die Abwägung verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht, kann gegebenenfalls Gegenstand verfassungsgerichtlicher Kontrolle sein. Das Bundesverfassungsgericht ist zum Eingreifen gegenüber den Fachgerichten jedoch nur dann berufen, wenn diese tragende Elemente des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts und der korporativen Religionsfreiheit einerseits oder Grundrechte des Arbeitnehmers andererseits verkennen.
Die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geben insoweit keinen Anlass zu Modifikationen der Auslegung des Verfassungsrechts. Art. 11 Abs. 1 EMRK in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 EMRK schützt die Kirchen und Religionsgemeinschaften vor ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen im Hinblick sowohl auf religiöse als auch auf organisatorische Fragen. Sie sind insbesondere befugt, ihren Arbeitnehmern und den die Gemeinschaft repräsentierenden Personen ein gewisses Maß an Loyalität abzuverlangen.
Das Autonomierecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften einerseits und die entgegenstehenden Rechtspositionen der kirchlichen Arbeitnehmer andererseits verlangen - in Übereinstimmung mit den verfassungsrechtlichen Maßstäben - eine Abwägung der widerstreitenden Interessen unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls. Die konventionsrechtliche Neutralitätspflicht des Staates in religiösen Angelegenheiten untersagt den staatlichen Stellen hierbei ebenfalls eine eigenständige Bewertung und Gewichtung von Glaubensinhalten. In bestimmten Ausnahmefällen ist der Staat hiervon entbunden, insbesondere wenn die Loyalitätsobliegenheit oder deren Gewichtung im Kündigungsfall gegen Grundprinzipien der Rechtsordnung verstößt oder wenn sie im Ergebnis zu einer offensichtlichen Verletzung eines anderen Konventionsrechts in seinem Kerngehalt führt.
Nach diesen Maßstäben verstößt das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 8. September 2011 gegen Art. 4 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV, da die bei der Anwendung des § 1 Abs. 2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) vorgenommene Interessenabwägung dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht der Beschwerdeführerin nicht in dem verfassungsrechtlich gebotenen Umfang Rechnung trägt.
Der persönliche Anwendungsbereich von Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV ist zu Gunsten der Beschwerdeführerin eröffnet. Zwar gehört weder die Beschwerdeführerin noch das von ihr getragene Krankenhaus zur amtskirchlichen Organisation. In Anbetracht der vorrangig religiösen Zielsetzung ihres Handelns und ihrer institutionellen Verbindung zur römisch-katholischen Kirche nimmt sie aber an deren kirchlichem Selbstbestimmungsrecht teil. Die religiöse Dimension tritt im Fall der Beschwerdeführerin nicht in einem Maße gegenüber rein ökonomischen Erwägungen in den Hintergrund, dass dies geeignet wäre, die Prägung durch das glaubensdefinierte Selbstverständnis in Frage zu stellen.
Das Verbot des Lebens in kirchlich ungültiger Ehe ist durch den Arbeitsvertrag sowie durch den Verweis auf die Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse vom 22.09.1993 wirksam und vorhersehbar zum Inhalt des Arbeitsverhältnisses geworden. Für den Kläger des Ausgangsverfahrens, der als Chefarzt zur Gruppe der leitenden Mitarbeiter zählt, war bereits bei Vertragsschluss erkennbar, dass ein Loyalitätsverstoß durch Eingehung einer zweiten Ehe im Hinblick auf den Bestand seiner nach kirchlichem Recht geschlossenen ersten Ehe im Regelfall die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses nach sich ziehen würde. Diese Loyalitätsobliegenheit ist auf grundlegende und durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützte Glaubenssätze der römisch-katholischen Kirche rückführbar.
Auch die arbeitsrechtliche Sanktionierung von Verstößen hiergegen aufgrund der Konfession und der leitenden Stellung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. c) Das Bundesarbeitsgericht hat Bedeutung und Tragweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Rahmen der Auslegung von § 1 Abs. 2 KSchG verkannt. Es hat auf der ersten Stufe eine eigenständige Bewertung religiös vorgeprägter Sachverhalte vorgenommen und seine eigene Einschätzung der Bedeutung der Loyalitätsobliegenheit und des Gewichtes eines Verstoßes hiergegen an die Stelle der kirchlichen Einschätzung gesetzt, obwohl sie anerkannten kirchlichen Maßstäben entspricht und nicht mit grundlegenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen in Widerspruch steht.
Dies betrifft zum einen die Wertung des Bundesarbeitsgerichts, dass nach der Grundordnung auch nichtkatholische Personen mit leitenden Aufgaben betraut werden könnten und die römisch-katholische Kirche es daher offenbar nicht als zwingend erforderlich erachte, Führungspositionen an das Lebenszeugnis für die katholische Sittenlehre zu knüpfen, sowie zum anderen den Schluss auf ein vermindertes Kündigungsinteresse aus dem Umstand, dass die Beschwerdeführerin in der Vergangenheit mehrfach auch Chefärzte in zweiter Ehe weiterbeschäftigt habe.
Auch die Annahme des Bundesarbeitsgerichts, die Beschwerdeführerin habe bereits seit längerem von dem ehelosen Zusammenleben des Klägers mit seiner späteren zweiten Ehefrau gewusst, was erkennen lasse, dass sie ihre Glaubwürdigkeit nicht durch jeden Loyalitätsverstoß eines Mitarbeiters als erschüttert ansehe, setzt sich über den Maßstab der verfassten Kirche hinweg. Die schärfere Sanktionierung des Lebens in kirchlich ungültiger Ehe beruht auf dem besonderen sakramentalen Charakter der Ehe und dem für das katholische Glaubensverständnis zentralen Dogma der Unauflöslichkeit des gültig geschlossenen Ehebandes zu Lebzeiten.
Das Bundesarbeitsgericht wird bei der Auslegung von § 1 Abs. 2 KSchG die praktische Konkordanz zwischen dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht und der korporativen Religionsfreiheit auf Seiten der Beschwerdeführerin und dem Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) sowie dem Gedanken des Vertrauensschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) auf Seiten des Klägers herzustellen haben.
Bisher hat das Bundesarbeitsgericht lediglich festgestellt, dass der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG zu Gunsten des Klägers und seiner zweiten Ehefrau eröffnet ist. Es hat jedoch nicht dargelegt, weshalb diese Rechtspositionen gerade im vorliegenden Fall in einem Maße tangiert sind, das es rechtfertigen würde, den Interessen des Klägers des Ausgangsverfahrens den Vorrang vor den Interessen der Beschwerdeführerin einzuräumen. Das Bundesarbeitsgericht wird daher - gegebenenfalls nach Ermöglichung ergänzender Tatsachenfeststellungen - eine eingehende Gesamtwürdigung vorzunehmen haben.
Den Gedanken des Vertrauensschutzes wird es insoweit zu berücksichtigen haben, als der Arbeitsvertrag - abweichend von der Grundordnung - keine unterschiedliche Bewertung eines Verstoßes gegen das Verbot des Lebens in kirchlich ungültiger Ehe und eines Verstoßes gegen das Verbot des Lebens in nichtehelicher Gemeinschaft vorsieht und diese individualvertragliche Abrede besonderes Vertrauen des Arbeitnehmers ausgelöst haben könnte.
BVerfG, Beschl. v. 22.10.2014 - 2 BvR 661/12
Quelle: BVerfG, Pressemitteilung v. 20.11.2014