Die am 13.03.2025 aufgenommenen Verhandlungen über einen Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD sind – früher als erwartet – am 09.04.2025 abgeschlossen worden; die Ampelkoalition hatte hierfür noch drei Wochen mehr Zeit benötigt.
Den Verhandlungen zugrunde lag das elfseitige Sondierungspapier, das am 08.03.2025 der Öffentlichkeit vorgestellt und das anschließend in 16 Arbeitsgruppen, darunter die Arbeitsgruppe „Arbeit und Soziales“, konkretisiert und ergänzt wurde.
Herausgekommen ist ein Entwurf, der sich über insgesamt 144 Seiten erstreckt.1
Der Themenkomplex Arbeit und Soziales, der in Koalitionsverhandlungen der letzten Jahrzehnte noch zu den zentralen Konfliktfeldern gehörte, wurde dieses Mal schon in den Sondierungsgesprächen „abgeräumt“; er sollte kein Stolperstein für die eigentlichen Verhandlungen sein.
Entsprechend dürftig fallen in diesem Bereich die das Sondierungspapier ergänzenden Vereinbarungen aus, die sich auf den Seiten 14 bis 21 des Vertragsentwurfs finden.
1. Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 15 Euro – nicht mehr als eine Orientierung
Die Ankündigungen zum gesetzlichen Mindestlohn, der seit dem 01.01.2025 bei 12,82 Euro pro Arbeitsstunde liegt, hörten sich für den Niedriglohnsektor im Sondierungspapier noch recht vielversprechend an: Bereits im Jahr 2026 soll ein Mindestlohn in Höhe von 15 Euro pro Arbeitsstunde „erreichbar“ sein.
Mit der Zielmarke 15 Euro wurde eine zentrale Wahlkampfforderung der SPD aufgegriffen.
Die Formulierung, dass dieser Stundensatz „erreichbar“ sein soll, findet sich jetzt auch im Entwurf des Koalitionsvertrags.
Zugleich aber wird – wie bereits im Sondierungspapier – geregelt, wie diese Anpassung geschehen soll, nämlich durch Beschlüsse der Mindestlohn- kommission (§§ 4 ff. MiLoG), die anschließend in einer Rechtsverordnung der Bundesregierung umgesetzt (§ 11 MiLoG) werden.
Im Unterschied zu den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag der Ampelregierung, die eine Erhöhung des Mindestlohns (auf 12 Euro pro Arbeitsstunde) durch den Gesetzgeber vorsahen, wird jetzt also die Erhöhung der Mindestlohnkommission überlassen, die an keine Weisungen gebunden ist.
Zudem enthalten die Vorgaben, die der Mindestlohnkommission laut Koalitionsvertrag gesetzt werden sollen – die Kommission soll sich bei ihren Entscheidungen „im Rahmen einer Gesamtabwägung sowohl an der Tarifentwicklung als auch an 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten zu orientieren“ haben – nichts Neues; diese Vorgaben sind bereits Gesetz.
Dies gilt zum einen für die Orientierung an der Tarifentwicklung, die aktuell bereits in § 9 Abs. 2 MiLoG festgeschrieben ist. Und dies gilt für die Berücksichtigung des Referenzwerts von 60 % des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten nach Art. 5 Abs. 4 der EU-Mindestlohnrichtlinie,2 der sich bereits in § 2 Abs. 1 Buchst. a) der Geschäftsordnung der Mindestlohn- kommission findet.
Die vermeintlichen Vorgaben geben also nur die gegenwärtige Rechtslage wieder.
Dass es sich bei Zielmarke und Zeitpunkt der Anpassung nur um Orientierungsgrößen handelt, wird auch aus Äußerungen von Verhandlungsteilnehmern auf Seiten der CDU deutlich, die darauf verweisen, dass eine fixe Größe nicht vereinbart und deren Erreichbarkeit maßgeblich von der wirtschaftlichen und der Tarifentwicklung abhängig sei; die Realisierung der 15 Euro zu dem angepeilten Zeitpunkt sei deshalb „sehr unwahrscheinlich“.
Tatsächlich wird mit den jetzigen Regelungen nur eine Wunschvorstellung formuliert, deren Umsetzung in die Hände der Mindestlohnkommission gelegt wird.
Allerdings sind nach neueren Berechnungen des Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) und des Instituts für Makroökonomie (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung3 durch die – bereits jetzt maßgebliche – Orientierung an 60 Prozent des Bruttomedianlohns die 15 Euro doch nicht ganz unwahrscheinlich. Man wird sehen.
2. Gestaltung und Kontrolle der Arbeitszeit
Relativ breiten Raum nehmen die Vereinbarungen zur Arbeitszeit ein. Dabei steht die Abkehr von der täglichen Höchstarbeitszeit (§ 3 ArbZG) und die Einführung einer wöchentlichen Arbeitszeitgrenze – entsprechende Vorstellungen fanden sich bereits im Koalitionsvertrag der Ampelkoalition – im Mittelpunkt.
Mit der Umstellung auf Wochenzeitgrenzen soll den Unternehmen einer flexiblere Arbeitszeitgestaltung möglich gemacht werden. Zugleich wird betont, dass die bestehenden Vorschriften zu den Ruhezeiten (§ 5 ArbZG) beibehalten werden sollen.
Ebenfalls soll die Pflicht zur Erfassung von Arbeitszeiten, die der EuGH mit Urteil vom 14.05.20194 vorgegeben hat – die Arbeitszeiterfassung muss danach in der Mitgliedstaaten der EU durch ein objektives, verlässliches und zugängliches System erfolgen – gesetzlich geregelt werden.
Auch dies hatte sich, letztlich vergeblich, die Ampelkoalition bereits in ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen.
Auch dieses Mal setzten die Koalitionspartner auf eine elektronische Zeiterfassung. Die Vertrauensarbeitszeit soll aber „im Einklang mit der EU-Arbeitszeitrichtlinie“ ohne Zeiterfassung möglich bleiben.
Ob und wie das Modell der in der Praxis weit verbreiteten, klassischen Vertrauensarbeitszeit EU-rechtskonform ohne eine Erfassung der Arbeitszeit umgesetzt werden kann, bleibt abzuwarten.
3. Ausweitung der Arbeitszeit
Angesichts fehlender Arbeitskräfte in vielen Branchen will man einen Anreiz zur Leistung von Mehrarbeit mit Hilfe des Steuerrechts schaffen, in dem zunächst Zuschläge für Mehrarbeit, die über die tariflich vereinbarte bzw. an Tarifverträgen orientierte Vollzeitarbeit hinausgehen, steuerfrei gestellt werden.
Auch über die Schwellenwerte der Vollzeitarbeit hat man sich schon einmal verständigt: Bei nicht tariflich geregelten Arbeitszeiten sollen stets 40 Wochenstunden als Maßstab herangezogen werden, bei Geltung eines Tarifvertrags „mindestens 34 Stunden“.
Ersteres soll offenbar auch gelten, wenn insbesondere arbeitsvertraglich eine geringere Wochenstundenzahl als Vollzeit festgelegt wurde.
Gilt in einem Betrieb also die 38-Stunden-Woche, müssten die Zuschläge für die ersten beiden Überstunden folglich noch versteuert werden, ab der dritten Überstunde nicht mehr. Bei einer tariflich festgelegten 38-Stunden-Woche würden ab der ersten Überstunde keine Steuern auf Mehrarbeitszuschläge anfallen.
Bedenklich ist, dass Teilzeitbeschäftigte von dieser steuerlichen Begünstigung nicht erfasst werden sollen, eine gesetzliche Ungleichbehandlung, deren sachliche Rechtfertigung höchst zweifelhaft ist.
Wohl ausgleichshalber soll für Teilzeitbeschäftigte ein Ansporn zur Ausweitung der Teilzeitarbeit, und zwar ebenfalls mit Hilfe des Steuerrechts geschaffen werden: Künftig sollen „Prämien“, die der Arbeitgeber zur Ausweitung der Arbeitszeit zahlt, steuerlich „begünstigt“ werden.
Damit haben die Arbeitsvertragsparteien die Möglichkeit, alle Zuschläge, die über die vereinbarte Teilzeitarbeit hinausgehende Zeitgrenze gezahlt werden, steuerlich zum Vorteil der Teilzeitbeschäftigten zu gestalten.
Schließlich wird für Ruheständler, die nach Eintritt in die Rente weiterarbeiten, ein Steuerprivileg eingeführt, das als Aktivrente bezeichnet wird.
Danach sollen Ruheständler bis zu einem Betrag von 2.000 € monatlich (unabhängig von der Rente) von der Einkommensteuer befreit werden.
Mit einer Rentenleistung hat dies aber nichts zu tun. Vielmehr wird auch insoweit mit Hilfe des Steuerrechts ein Anreiz zur Ausweitung der Beschäftigung gesetzt.
Im Übrigen soll dazu die Weiterarbeit beim selben Arbeitgeber auch befristet möglich sein, wofür das Vorbeschäftigungsverbot im Rahmen der sachgrundlosen Befristung aufgehoben werden soll.
4. Stärkung der Tarifbindung
Der kontinuierlich zurückgehenden Tarifbindung, also der abnehmenden Mitgliedschaft in Gewerkschaften einerseits und in Arbeitgeberverbänden andererseits, will man sich stellen.
Dazu wird zum einen die Schaffung eines Bundestariftreuegesetzes angekündigt, das die Vergabe von öffentlichen Aufträgen des Bundes davon abhängig macht, dass tarifvertragliche Arbeitsbedingungen eingehalten, insbesondere den Arbeitnehmern Arbeitsentgelte in Höhe des jeweiligen Branchentarifvertrags gezahlt werden.
Ein solches Gesetz hatte die Bundesregierung noch am Ende der letzten Legislaturperiode beschlossen,5 war dann aber vor allem am Widerstand der CDU/CSU gescheitert.
Nunmehr soll die Anwendung dieses Gesetzes grundsätzlich für alle Unternehmen und bei Vergaben ab 50.000 € gelten. Für Start-ups mit innovativen Leistungen soll der Vergabeschwellenwert in den ersten vier Jahren nach ihrer Gründung auf 100.000 € angehoben werden.
Zudem soll ein Anreiz zum Beitritt in Gewerkschaften geschaffen werden, indem die gewerkschaftliche Mitgliedschaft „steuerlich attraktiver“ gestaltet werden soll. Wie dies geschehen soll, bleibt allerdings unklar.
5. Betriebliche Mitbestimmung
Weit über die Festlegungen im Sondierungspapier hinaus gehen die zur betrieblichen Mitbestimmung getroffenen Vereinbarungen. Sie beschränken sich aber im Wesentlichen auf den Einzug der digitalen Kommunikation in die Betriebsverfassung und die Betriebe.
So sollen zum einen Online-Betriebsratssitzungen und Online-Betriebsversammlungen zusätzlich als gleichwertige Alternativen zu Präsenzformaten ermöglicht werden. Zudem soll die Option, online zu wählen, im Betriebsverfassungsgesetz verankert werden.
Des Weiteren soll das Zugangsrecht der Gewerkschaften in die Betriebe um einen digitalen Zugang, der den bereits vorhandenen analogen Rechten entspricht, erweitert werden. Welche Zugangsmöglichkeiten damit konkret gemeint sind, bleibt allerdings offen, so dass bei der Umsetzung dieses Zugangsrechts Konflikte auftreten dürften.
6. Sozialrecht: Bürgergeld, Altersrente und Versicherungspflicht für Selb- ständige
Für den Bereich des Sozialrechts hat der Koalitionsvertrag die Vorfestlegungen zum Bürgergeld und zur Altersrente im Sondierungspapier ergänzt. Zudem wurde die Einführung einer Versicherungspflicht für die Altersversorgung von Selbständigen angekündigt.
6.1 Vom Bürgergeld zur Grundsicherung
Das im Wahlkampf besonders umstrittene Bürgergeldsystem wird danach überarbeitet und zu einer „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ im Sinne des Prinzips „Fördern und Fordern“ zurückgeführt. Dazu sollen insbesondere die Mitwirkungspflichten und die Sanktionen gegenüber den Beziehern von Geldleistungen verschärft werden.
Es sollen Arbeitssuchende, „die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern“, mit einem vollständigen Leistungsentzug – in den durch das Bundesverfassungsgericht gesetzten Grenzen – rechnen müssen. Die bestehende Karenzzeit für Vermögen soll abgeschafft und die Höhe des Schonvermögens an die „Lebensleistung“ gekoppelt werden.
Zugleich sollen für Bezieher von Sozialleistungen, insbesondere der Grundsicherung, Anreize gesetzt werden, ein höheres Erwerbseinkommen zu erzielen oder eine sozialversicherungs- pflichtige Beschäftigung aufzunehmen.
Hierzu will man unter anderem die sogenannten Hinzu- verdienstregeln reformieren. Auf die Einzelheiten dieses komplexen Vorhabens darf man gespannt sein.
6.2 Gesetzliche Altersrente
Die Ankündigungen zur gesetzlichen Altersrente sind ganz überwiegend defensiver Natur. So wird zunächst festgehalten, dass das Renteneintrittsalter nicht erhöht und das Privileg des Renteneintritts nach 45 Beitragsjahren, regelmäßig benannt als „Rente mit 63“, beibehalten werden.
Das aktuelle Rentenniveau in Höhe von 48 % des Bruttoentgelts wird abgesichert, allerdings nur bis zum Jahr 2031.
Zugleich wird die sogenannte Mütterrente, also die Berücksichtigung von Erziehungsjahren bei der Rentenberechnung, noch einmal ausgeweitet.
Dazu sollen künftig auch für vor 1992 geborene Kinder drei statt wie bisher maximal zweieinhalb Erziehungsjahre bei der Rente angerechnet werden.
Neu ist das Konzept einer sogenannten Frühstart-Rente, die bis zum Beginn des nächsten Jahres eingeführt werden soll. Danach sollen für „jedes Kind“ vom sechsten bis zum 18. Lebensjahr, das eine Bildungseinrichtung in Deutschland besucht, zehn Euro monatlich in ein individuelles, kapitalgedecktes und privatwirtschaftlich organisiertes Altersvorsorgedepot eingezahlt werden.
Der in dieser Zeit angesparte Betrag soll anschließend ab dem 18. Lebensjahr bis zum Renteneintritt durch private Einzahlungen, und zwar bis zu einem jährlichen Höchstbetrag weiter bespart werden können.
6.3 Versicherungspflicht für (neue) Selbständige
Die unzureichende Absicherung von Selbständigen im Alter wird auch in dieser Legislaturperiode auf die Tagesordnung gesetzt. Bereits die Ampelkoalition hatte ein entsprechendes Vorhaben angekündigt, war mit dessen Umsetzung aber nicht erfolgreich.
Künftig sollen alle neuen Selbständigen, die keinem obligatorischen Alterssicherungssystem, wie dem der Versorgungskammern für Apotheker, Ärzte, Rechtsanwälte etc., zugeordnet sind, in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden.
So sinnvoll das Vorhaben daherkommt, bestehen doch erhebliche Zweifel, dass es sich, jedenfalls ohne eine massive Unterstützung durch Steuergelder, dieses Mal tatsächlich umsetzen lassen wird.
Fazit: Neuerungen mit Konfliktpotential
Auch wenn der Entwurf durch einige nicht erwartete Neuerungen (wöchentliche Arbeitszeitgrenze, Tariftreuegesetz, Frühstart-Rente, neue Grundsicherung) auf sich aufmerksam macht – ein großer Wurf sieht anders aus.
Und die sich bereits jetzt abzeichnende Auseinandersetzung in Sachen gesetzlicher Mindestlohn lässt erahnen, dass die Umsetzung der Vorhaben, die mit einem Interpretationsspielraum verbunden sind – und derer gibt es nicht wenige – ein nicht unerhebliches Konfliktpotential bietet, das die Gesetzgebungsarbeit der Koalition auf Dauer belasten dürfte.
Ein Beitrag von Rechtsanwalt Prof. Dr. Joachim Weyand, Direktor des Instituts für Rechtswissenschaft a.D., Universität Ilmenau, Mitherausgeber des Deubner „Praxishandbuch Arbeitsrecht“ (Beitrag erscheint im Juni 2025) und Autor des „Rechtsportal Arbeitsrecht“ (Beitrag hier im April 2025 erschienen).
1 „Deutschlands Zukunft gestalten“, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode, abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/194886/696f36f795961df200fb27fb6803d83e/koalitionsvertrag-data.pdf.
2 Richtlinie (EU) 2022/2041 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.10.2022 über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union, ABl Nr. L275/33 (EU-Mindestlohnrichtlinie).
3 Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung v. 24.03.2025, „Nächste Mindestlohnanhebung dürfte stärker ausfallen – 15 Euro in Sicht“, abrufbar unter: https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-naechste-mindestlohnanhebung-duerfte-staerker- ausfallen-15-euro-in-sicht-67792.htm.
4 EuGH, Urt. v. 14.05.2019 – C-55/18, NZA 2019, 683.
5 Regierungsentwurf eines Tariftreuegesetzes, Stand 26.11.2024, abrufbar unter https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Gesetze/Regierungsentwuerfe/reg- tariftreuegesetz.pdf? blob=publicationFile&v=1.