Das in Italien geltende absolute Verbot, von den Mindestgebühren der Rechtsanwälte abzuweichen, stellt eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs dar.
In der ersten Rechtssache verfasste Herr Cipolla, der u. a. Frau Portolese anwaltlich vertrat, für seine Mandanten drei verfahrenseinleitende Schriftsätze. Die Streitigkeit wurde schließlich im Wege eines Vergleichs, aber ohne Tätigwerden von Herrn Cipolla, beigelegt. Da die Mandantin bereits einen Vorschuss von 1 850 000 ITL geleistet hatte, weigerte sie sich, den von ihrem Anwalt geforderten Betrag von 4 125 000 ITL zu zahlen. Das Tribunale di Torino wies Herrn Cipollas Klage auf Zahlung dieses Betrags ab; er wandte sich daraufhin an die Corte d’appello di Torino und beantragte die Anwendung der Gebührenordnung.
In der zweiten Rechtssache wandten sich Herr Macrino und Frau Capodarte gegen den Vollstreckungsbescheid, den Herr Meloni gegen sie wegen Honoraren erwirkt hatte, die er von ihnen wegen einer außergerichtlichen Beratung auf dem Gebiet des Urheberrechts verlangte; diese stünden zur Bedeutung der Rechtssache und den erbrachten Leistungen außer Verhältnis. Das Tribunale di Roma wirft die Frage auf, ob die Gebührenordnung, soweit sie für Rechtsanwälte bei außergerichtlichen Tätigkeiten gilt und verbindlich ist, mit dem EG-Vertrag vereinbar ist.
In Italien wird die Gebührenordnung der Rechtsanwälte – nach einer aus dem Jahr 1933 stammenden Vorschrift – auf der Grundlage von Maßstäben festgelegt, die vom Consiglio Nazionale Forense (Nationaler Rat der Rechtsanwälte) beschlossen und vom Justizminister nach Stellungnahmen des Comitato Interministeriale dei Prezzi (Interministerieller Preisausschuss) und des Staatsrats genehmigt werden. Diese Maßstäbe werden anhand des Streitwerts, der mit der Sache befassten Instanz und der Verfahrensdauer festgelegt. Für jede Handlung oder Abfolge von Handlungen bestimmt die Gebührenordnung einen Honorarmindest- und einen Honorarhöchstsatz. Eine Vereinbarung, mit der die durch die Gebührenordnung festgelegten Mindesthonorare für anwaltliche Leistungen abbedungen werden, ist nichtig.
Erst bei der gerichtlichen Festsetzung der Honorare kann durch eine begründete Entscheidung eventuell (bei Sachen von außergewöhnlicher Bedeutung) der Höchstsatz überschritten oder (wenn die Sache einfach gelagert ist) der Mindestsatz unterschritten werden.
Auf der Grundlage einer eingehenden Prüfung des zum Erlass der Gebührenordnung führenden Verfahrens gelangt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die Befugnis zum Erlass von Entscheidungen über den Mindestsatz von Rechtsanwaltshonoraren vom italienischen Staat (und nicht von der berufsständischen Organisation) ausgeübt wird. Folglich kann Italien nicht vorgeworfen werden, gegen die Wettbewerbsvorschriften verstoßende Kartellabsprachen vorzuschreiben, ihren Abschluss zu begünstigen oder die Auswirkungen solcher Absprachen zu verstärken oder Missbräuche einer beherrschenden Stellung vorzuschreiben, zu begünstigen oder die Auswirkungen solcher Missbräuche zu verstärken.
Nach Auffassung des Gerichtshofes erschwert das Verbot, durch Vereinbarung von den Mindesthonoraren abzuweichen, in der Tat den Zugang von außerhalb Italiens niedergelassenen Rechtsanwälten zum italienischen Markt für juristische Dienstleistungen, indem es diesen Anwälten die Möglichkeit nimmt, durch geringere Honorarforderungen als den in der Gebührenordnung festgesetzten solchen Rechtsanwälten wirksamer Konkurrenz zu machen, die in Italien dauerhaft niedergelassen sind, und indem es die Wahlfreiheit der Empfänger derartiger Dienstleistungen beschränkt.
Demgegenüber betont der Gerichtshof, dass die Ziele des Schutzes der Verbraucher (denen gegenüber juristische Dienstleistungen erbracht werden) und der geordneten Rechtspflege als zwingende Gründen des Allgemeinwohls angesehen werden können, mit denen sich eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen lässt: Dies steht unter der doppelten Voraussetzung, dass die nationale Maßnahme geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten Zieles zu garantieren, und nicht über das zur Erreichung dieses Zieles Erforderliche hinausgeht.
Dies zu beurteilen, überlässt der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht, das dabei zwingend folgende Aspekte in Betracht zu ziehen hat:
- die eventuelle Wechselbeziehung zwischen der Honorarhöhe und der Qualität der von den Rechtsanwälten erbrachten Dienstleistungen und die Frage, ob insbesondere die Festsetzung derartiger Mindesthonorare eine geeignete Maßnahme darstellt, die verfolgten Ziele des Verbraucherschutzes und der geordneten Rechtspflege zu erreichen. Für den italienischen Markt, der durch eine ausgesprochen große Zahl von Anwälten gekennzeichnet ist, könnte die Gebührenordnung einen Konkurrenzkampf vermeiden, der zu Billigangeboten führen könnte, was das Risiko eines Verfalls der Qualität der Dienstleistungen zur Folge hätte;
- das Informationsmissverhältnis zwischen den „Verbrauchern als Mandanten" und den Rechtsanwälten. Die Anwälte verfügen über ein hohes Maß an Fachkenntnissen, die die Verbraucher nicht zwangsläufig haben, so dass es Letzteren schwer fällt, die Qualität der ihnen erbrachten Dienstleistungen zu beurteilen.
- die Möglichkeit, die genannten Ziele anderweitig zu erreichen, wie etwa über für die Anwälte geltende Berufsregeln (Vorschriften über die Organisation, die Qualifikation, das Standesrecht, die Kontrolle und die Haftung).
Quelle: EUGH - Pressemitteilung vom 05.12.06