Arbeitsrecht -

Wirksamkeit des Instituts der Verdachtskündigung

Verstößt die Verdachtskündigung gegen die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK?

Anlass für die Frage ist die Aufmerksamkeit der Medien, die das Urteil des LAG Berlin-Brandenburg vom 24.02.2009 – 7 Sa 2017/08 (fristlose Kündigung einer Kassiererin) gefunden hat.{DB:tt_content:2566:bodytext}

Selbst vollkommen unqualifizierte Gutmenschen fühlten sich bemüßigt, ohne jede Kenntnis des festgestellten Sachverhalts und der Urteilsgründe Kommentare zum Urteil abzugeben. Selbst der Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse entblödete sich nicht, die Entscheidung ohne jede Kenntnis der Gründe als „barbarisches Urteil von asozialer Qualität“ zu bezeichnen. Medienwirksam kündigte der Prozessvertreter der Klägerin in der Talkshow JBK an, den Fall vor den EGMR zu bringen. Er beruft sich dabei auf die vermeintliche Verletzung der Unschuldsvermutung. Hier offenbart sich ein ausgeprägtes Unverständnis des Instituts der Verdachtskündigung.

Die Vorschrift des Art. 6 Abs. 2 EMRK lautet: „Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“ Die Vorschrift des Art. 6 Abs. 2 EMRK hat den Rang eines Bundesgesetzes. Verfassungsrechtlichen Rang hat die Unschuldsvermutung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips, Art. 20 Abs. 3 GG (BAG, Beschl. v. 16.09.1999 – 2 ABR 68/98). Im Folgenden wird die Erheblichkeit dieser Vorschrift für den Fall der Verdachtskündigung kurz erörtert.

An erster Stelle sei daran erinnert, dass weder die verhaltens- noch die personenbedingte Kündigung ein Sanktionsinstrument des Arbeitgebers für Vorgänge oder Verhalten in der Vergangenheit ist. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der krankheitsbedingten Kündigung. In einem ersten Schritt ist vom Arbeitgeber immer die negative Zukunftsprognose darzulegen, aus der sich zukünftige Belastungen ergeben, die dem Arbeitgeber nicht zumutbar sind. Die Fehlzeiten in der Vergangenheit spielen nur insoweit eine Rolle, als sie als Basis für die negative Prognose herangezogen werden können. Entscheidend ist immer die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses in der Zukunft. Im Falle der außerordentlichen und fristlosen verhaltensbedingten Kündigung z.B. wegen einer Straftat gegen den Arbeitgeber kommt es darauf an, ob dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Frist für eine ordentliche Kündigung unzumutbar ist.

Für die Frage der Zumutbarkeit ist im Falle einer Vermögensstraftat zu Lasten des Arbeitgebers die Schadenssumme völlig unerheblich. Im Falle der erforderlichen Interessenabwägung im Rahmen der Beurteilung der Wirksamkeit einer außerordentlichen und fristlosen Kündigung ist Folgendes zu beachten: Zu Lasten des Arbeitnehmers reicht es im Falle des Diebstahls aus, dass die entwendeten Sachen nicht völlig wertlos sind. Entscheidend kommt es darauf an, dass dem Arbeitgeber die Disposition über Vermögenswerte entzogen wird. Hierzu reicht es aus, z.B. nicht mehr verkaufsfähige Waren zu verschenken oder auf einem Betriebsfest zu verbrauchen (BAG, Urt. v. 11.12.2003 – 2 AZR 36/03).

Die Verdachtskündigung ist aber von der Tatkündigung strikt zu unterscheiden. Es handelt sich um vollkommen eigenständige Kündigungsgründe (BAG, Urt. v. 06.12.2001 – 2 AZR 496/00). Deren Wirksamkeitsvoraussetzungen unterscheiden sich erheblich. Bei der Kündigung wegen einer Straftat zu Lasten des Arbeitgebers handelt es sich um eine verhaltensbedingte Kündigung. Die Verdachtskündigung ist ein Fall der personenbedingten Kündigung (Erman-Belling, BGB 12. Auflage 2008, § 626 BGB Rz. 78 m.w.N.). Aus diesem Grund ist der Betriebsrat entsprechend anzuhören. Will sich der Arbeitgeber auf den dringenden Verdacht einer Straftat zu Lasten des Arbeitsgebers als Kündigungsgrund berufen, muss er dazu anhören. Die Anhörung wegen einer vollendeten Tat reicht nicht aus. Eine Auslegung der Betriebsratsanhörung, dass die aufgeführten Gründe zumindest eine Verdachtskündigung stützen ist nicht möglich. Die Verdachtskündigung ist ein aliud zur Tatkündigung.

Allein die Verdachtskündigung erfordert auch die vorherige Anhörung des betroffenen Arbeitnehmers und erlegt dem Arbeitgeber erhebliche Ermittlungspflichten auf. Vor Ausspruch einer Verdachtskündigung muss der Arbeitgeber alle Möglichkeiten der Aufklärung des Sachverhalts ausschöpfen. Insbesondere hat der Arbeitgeber dem betroffenen Arbeitnehmer selbst Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (BAG, Urt. v. 31.07.2002 – 7 AZR 181/01). Im Rahmen der Anhörung ist der Verdacht so konkret darzulegen, dass der Arbeitnehmer sich substantiiert dazu äußern kann. Die vorherige ordnungsgemäße Anhörung des Arbeitnehmers ist Wirksamkeitsvoraussetzung der Verdachtskündigung (BAG, Urt. v. 13.09.1995 – 2 AZR 587/94). Die Anhörung und damit die Verdachtskündigung ist unwirksam, wenn sie unter unzumutbaren Umständen für den Arbeitnehmer erfolgt. Dies hat die Rechtsprechung für den Fall festgestellt, dass die Anhörung einer des Diebstahls verdächtigen Verkäuferin in Anwesenheit von Ladenkunden vorgenommen wurde (LAG Köln, Urt. v. 15.04. 1997 – 13 Sa 812/96). Ergeben die Einlassungen des Arbeitnehmers entlastende Gesichtspunkte, hat der Arbeitgeber auch diese zu ermitteln.

Begründet das Ergebnis der Ermittlungen den dringenden Verdacht einer Straftat, so kann der bloße Verdacht das schutzwürdige Vertrauen des Arbeitgebers in die Rechtschaffenheit des Arbeitnehmers zerstören. Wegen des Risikos, dass der Verdacht unbegründet ist, stellt die Rechtsprechung zu Recht hohe Anforderungen an die Umstände, die die Intensität des Verdachts die Schwelle zur Dringlichkeit überschreiten lassen. Die Verdachtskündigung enthält aber keinen Schuldvorwurf, noch stellt sie eine dem KSchG fremde Strafsanktion dar. Vielmehr lässt sie die Frage nach Schuld oder Unschuld des Arbeitnehmers offen.

Aus diesem Grund verstößt das Institut der Verdachtskündigung auch nicht gegen die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK. Kategorien von Schuld oder Unschuld sind der Verdachtskündigung fremd (BAG, Beschl. v. 16.09.1999 – 2 ABR 68/98; BAG, Urt. v. 14.09.1994 - 2 AZR 164/94).

Das Ergebnis eines etwaigen Strafverfahrens, dass – evtl. auf Veranlassung des Arbeitgebers – eingeleitet wurde, ist für die Frage der Wirksamkeit einer Verdachtskündigung irrelevant. So spielt auch die Einstellung eines wegen des Tatverdachts eingeleiteten Ermittlungsverfahrens nach § 170 Abs. 2 S. 1 StPO keine Rolle für die Wirksamkeit der ausgesprochenen Kündigung. Fällt der Verdacht aufgrund neuer Tatsachen nach Ausspruch der Verdachtskündigung weg, hat der Arbeitnehmer einen Wiedereinstellungsanspruch (Erman-Belling, BGB 12. Auflage 2008, § 626 BGB Rz. 35, 78 m.w.N.).

Nach meiner Auffassung ist das von der Rechtsprechung entwickelte Institut der Verdachtskündigung deshalb auch ein gelungenes Beispiel des Ausgleichs von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen.

Um auf den Fall des LAG Berlin-Brandenburg zurückzukommen:

Es ist dem Arbeitgeber nicht zuzumuten, eine Arbeitnehmerin im Kassenbereich zu beschäftigen und damit Zugriff auf erhebliche Vermögenswerte zu ermöglichen, wenn diese aufgrund objektiver Tatsachen im dringenden Verdacht steht, Vermögensstraftaten zum Nachteil des Arbeitgebers zu begehen. Anders ausgedrückt: Muss der Arbeitgeber ernsthaft befürchten, dass jemand klaut und/oder betrügt, ist es ihm unzumutbar, dieser Person Zugriff auf sein Vermögen einzuräumen.

Ob die Intensitätsschwelle zum dringenden Tatverdacht überschritten und eine angemessene Interessenabwägung durchgeführt wurden, ist eine andere Frage. Um diese zu beantworten, sollte man zuvor das jeweilige schriftliche Urteil gelesen haben.

Quelle: Rechtsanwalt Dr. Martin Kolmhuber - Urteilsanmerkung vom 17.03.09