Arbeitsrecht -

Sittenwidrige Arbeitsvergütung

Die Beantwortung der Frage, unter welchen Umständen die vereinbarte Arbeitsvergütung wegen Sittenwidrigkeit nichtig ist, erfordert auch die Aufarbeitung der gesellschaftlichen Entwicklung in der Arbeitswelt. Diese ist seit einigen Jahrzehnten einem radikalen Wandel unterzogen.

Der Bestandsschutz bestehender Arbeitsverhältnisse und die Privilegien der alten, größtenteils gewerkschaftlich organisierten Belegschaftsmitglieder stellen für Nachwuchskräfte enorme Eintrittsschwellen in den Arbeitsmarkt dar. Deshalb haben sich neben den Stammbelegschaften unterschiedliche Formen so genannter prekärer, also unsicherer und i.d.R. schlecht bezahlter, Arbeitsverhältnisse etabliert, u.a. Zeitarbeit und befristete Arbeitsverhältnisse.{DB:tt_content:2566:bodytext}

Teilweise wurden für die betroffenen Personengruppen bereits plakative Begriffe gebildet, die bereits Eingang in den Sprachgebrauch gefunden haben („Generation  Praktikum“). Darüber hinaus forciert die Politik die Schaffung eines Niedriglohnsektors, um Beschäftigungsmöglichkeiten für nicht oder gering qualifizierte Menschen zu schaffen. Die Spaltung der Belegschaften in privilegierte und prekäre Arbeitsverhältnisse bzw. (hoch-)qualifizierte und nicht qualifizierte Arbeitnehmer wirft die Frage nach der Abgrenzung zwischen zulässig geringer Vergütung und so genanntem Lohnwucher auf.

Für den betroffenen Arbeitgeber ist die Unterscheidung von erheblicher Bedeutung. Wird die Schwelle zum Lohnwucher im Sinne des § 138 Abs. 2 BGB überschritten, ist eine Vergütungsregelung wegen Sittenwidrigkeit nichtig. An die Stelle der vereinbarten Vergütung tritt die übliche Vergütung im Sinne des § 612 Abs. 1 BGB. Diese Vergütung liegt mit Sicherheit über der ursprünglich vereinbarten sittenwidrigen Vergütung und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch über derjenigen Vergütung, die soeben noch wirksam wäre.

Im Zentrum der Überlegungen steht die Bestimmung des Referenzentgelts, das zur Ermittlung der Sittenwidrigkeit einer vereinbarten Vergütung zugrunde gelegt wird (1.). Eng damit zusammen hängt die Frage nach der Darlegungs- und Beweislast (2.). Außerdem sind Besonderheiten zu beachten (3.).


1. Bestimmung des Referenzentgelts

Der Tatbestand des wucherischen Rechtsgeschäfts in § 138 Abs. 2 BGB erfordert ein auffälliges Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung und nach dem Wortlaut die verwerfliche Ausnutzung der Verhandlungssituation.

Die Rechtsprechung knüpft zur Feststellung eines auffälligen Missverhältnisses von Leistung und Gegenleistung an das in der betreffenden Branche und Wirtschaftsregion üblicherweise gezahlte Tarifentgelt (BAG, Urt. vom 22.04.2009 – 5 AZR 436/08; LAG Hessen, Urt. vom 07.08.2008 – 9/12 Sa 1118/07) oder an die übliche Vergütung in dem vergleichbaren Wirtschaftskreis (BAG, Urt. vom 26.04.2006 – 5 AZR 549/05; LAG Rheinland-Pfalz, Urt. vom 19.05.2008 – 5 Sa 6/08) an. Eine wucherische Vergütungsabrede läge dann vor, wenn die vereinbarte Vergütung weniger als zwei Drittel dieses Referenzentgelts betrüge (BAG, Urt. vom 22.04.2009 – 5 AZR 436/08; LAG Hamm, Urt. vom 18.03.2009 – 6 Sa 1284/08 und 6 Sa 1372/08; LAG Bremen, Urt. vom 28.08.2008 – 3 Sa 69/08; LAG Hessen, Urt. vom 07.08.2008 – 9/12 Sa 1118/07).

Diese Zweidrittelgrenze ist willkürlich gegriffen. Die Rechtsprechung hätte auch eine Zweifünftelgrenze (so LAG Rheinland-Pfalz, Urt. vom 10.01.2008 – 2 Sa 615/07) oder die Hälfte des Referenzentgelts als Grenze bestimmen können. Für die Praxis ist entscheidend, dass die Rechtsprechung tatsächlich ständig auf den Wert von zwei Dritteln zurückgreift. In Ausnahmefällen genügt bereits die Vereinbarung einer Vergütung, die weniger als drei Viertel der Referenzvergütung beträgt.

Zwar sprechen die Gerichte davon, ein Rechtsgeschäft sei möglicherweise dann sittenwidrig, wenn es nach seinem aus der Zusammenfassung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu entnehmenden Gesamtcharakter mit den guten Sitten nicht zu vereinbaren ist (BAG, Urt. vom 26.04.2006 – 5 AZR 549/05). Sofern die zutreffende Referenzvergütung ermittelt wurde, handelt es sich bei der Feststellung der Sittenwidrigkeit in der Praxis jedoch um eine einfache Rechenoperation. Die Berücksichtigung anderer Umstände als desjenigen der Vergütungshöhe ist entweder schlichtes Lippenbekenntnis der Rechtsprechung oder ändert am sittenwidrigen Gesamtcharakter des Arbeitsvertrages nichts.

Problematisch ist die Bestimmung der Referenzvergütung, wenn der Arbeitgeber nicht tarifgebunden ist und das Gericht auf die übliche Vergütung in dem „vergleichbaren Wirtschaftskreis“ abstellt (BAG, Urt. vom 26.04.2006 – 5 AZR 549/05).


Beispiel:
Beschäftigt ein nicht tarifgebundener Arbeitgeber aus der Metallindustrie Arbeitnehmer in der Werkskantine, kann einerseits auf die Metallbranche abgestellt werden. Hier existieren möglicherweise sowohl Tarifverträge der IG Metall als auch der christlichen Gewerkschaft CGM. Mit derselben Berechtigung könnten andererseits aber auch die Tarifverträge des Hotel- und Gaststättengewerbes als Referenztarifverträge herangezogen werden.

Ist der einschlägige Referenztarifvertrag ermittelt, muss die Entgeltgruppe bei hypothetischer Anwendbarkeit festgestellt werden. Damit der Arbeitnehmer in die richtige (hypothetisch anwendbare) Entgeltgruppe eingruppiert werden kann, müssen die für die Eingruppierung maßgeblichen Tatsachen wie Art der ausgeübten Tätigkeit, Dienstaltersstufe und Qualifikation des Arbeitnehmers festgestellt werden.

Letztendlich ist dann der Vergleich der tatsächlich vereinbarten Vergütung mit der tariflichen Stunden- oder Monatsvergütung ohne Zulagen und Zuschläge maßgebend. Aber auch insoweit sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen (BAG, Urt. vom 22.04. 2009 – 5 AZR 436/08; LAG Rheinland-Pfalz, Urt. vom 10.01.2008 – 2 Sa 615/07).

Die Rechtsprechung verlangt auf subjektiver Ebene ausschließlich Kenntnis der objektiven Tatsachen, aus denen die Sittenwidrigkeit folgt (BAG, Urt. vom 22.04.2009 – 5 AZR 436/08; LAG Bremen, Urt. vom 28.08.2008 – 3 Sa 69/08). Weder das Bewusstsein der Sittenwidrigkeit noch eine Schädigungsabsicht sind erforderlich. Das Tatbestandsmerkmal „unter Ausbeutung“ der besonderen Verhandlungssituation wird damit sehr weit ausgelegt. Die Kenntnis des Arbeitgebers vom Missverhältnis der beiderseitigen Leistungen muss hingegen ausdrücklich festgestellt werden (BAG, Urt. vom 22.04.2009 – 5 AZR 436/08).


2. Darlegungs- und Beweislast

Auszugehen ist von dem Grundsatz, dass jede Partei die für sie günstigen Tatsachen vorzutragen und unter Beweis zu stellen hat. Ein non liquet geht zu Lasten der beweispflichtigen Partei.

Der Arbeitnehmer, der sich auf die Sittenwidrigkeit der Vergütungsabrede beruft und die Differenz zum geschuldeten üblichen Entgelt geltend macht, muss also insbesondere folgende Tatsachen vortragen und unter Beweis stellen:

  • die Referenzvergütung, m.a.W. den einschlägigen Branchentarifvertrag der Region bzw. die übliche Vergütung in dem vergleichbaren Wirtschaftskreis;
  • die tatsächliche Beschäftigung als Voraussetzung für die (hypothetische) Eingruppierung. Illustrativ sind die Fälle LAG Hamm, Urt. vom 18.03.2009 – 6 Sa 1284/08 und 6 Sa 1372/08, in denen die Arbeitnehmerinnen abhängig von der tatsächlich ausgeübten Tätigkeit als Packerin (Tarifentgelt 9,82 Euro/Std.) oder Verkäuferin (Tarifentgelt 11,00 Euro/Std.) eingruppiert werden hätten können;
  • die Kenntnis des Arbeitgebers von den Tatsachen, die das auffällige Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung begründen.

Gelingt dem Arbeitnehmer der Beweis, dürfte es dem Arbeitgeber schwer fallen, den Kopf noch aus der Schlinge zu ziehen. Ihm obläge der Beweis, dass ein sachlich einschlägiger Tarifvertrag nicht repräsentativ und deshalb das Referenzentgelt auf anderem Wege zu bestimmen ist. Denn nach der Rechtsprechung gilt wohl der Erfahrungssatz, dass üblicherweise Tarifentgelt gezahlt wird (vgl. LAG Hessen, Urt. vom 07.08. – 9/12 Sa 1118/07; LAG Rheinland-Pfalz, Urt. vom 19.05.2008 – 5 Sa 6/08).


3. Besonderheiten

Im Zusammenhang mit sittenwidrigen Vergütungsvereinbarungen sind folgende Besonderheiten zu beachten:

  • Das BAG erlegt dem Arbeitgeber mittelbar eine Pflicht zur Beobachtung der Tarifentwicklung und ggf. zur Anpassung der Vergütung auf. Eine bei Abschluss des Arbeitsvertrags (noch) nicht zu beanstandende Vergütung kann durch die Entwicklung des Tariflohns wucherisch werden (BAG, Urt. vom 22.04.2009 – 5 AZR 436/08; BAG, Urt. vom 26.04.2006 – 5 AZR 549/05). Besondere Brisanz kann diese Pflicht im Falle des Wechsels des einschlägigen Tarifvertrags entfalten, z.B. dann, wenn der Arbeitgeber durch Änderung des Geschäftsgegenstands in einen anderen Tarifvertrag hineinwächst.
  • Der Fall des beidseitigen Rechtsirrtums hinsichtlich der Qualifizierung eines Beschäftigungsverhältnisses ist für den Arbeitgeber besonders risikoträchtig. Die Rechtsprechung versucht hier, dem Praktikanten-Unwesen einen Riegel vorzuschieben. Dient ein Praktikum nicht überwiegend Ausbildungszwecken, wird der „Praktikant“ also wie ein Arbeitnehmer beschäftigt, hat er selbstverständlich auch Anspruch auf entsprechende Vergütung (LAG Baden-Württemberg, Urt. vom 08.02.2008 – 5 Sa 45/07). Tatsächlich führt die rechtsirrige Annahme eines Praktikums mit entsprechender Vereinbarung eines Aufwendungsersatzes zuzüglich Taschengeld ausnahmslos zur Sittenwidrigkeit der Vergütung.

Quelle: Dr. Martin Kolmhuber, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln - Urteilsbesprechung vom 04.08.09