Arbeitsrecht -

Europarechtswidrigkeit des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB

Ist die Vorschrift des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB europarechtskonform und welche Rechtsfolgen sind an eine etwaige Europarechtswidrigkeit geknüpft?

LAG Düsseldorf, Bschl. v. 21.11.2007 - 12 Sa 1311/07
Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EGV (Kücükdeveci, Rs. C-555/07){DB:tt_content:2566:bodytext}

1. Europarechtskonformität von § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB

Kürzere Kündigungsfrist junger Arbeitnehmer

Die Anwendung der Vorschrift bewirkt auch nach Ablauf der Umsetzungsfrist der RL 2000/78/EG am 02.12.2006 und nach Inkrafttreten des AGG zum 18.08.2006 eine erheblich kürzere Kündigungsfrist junger Arbeitnehmer. Im Extremfall kann die Kündigungsfrist eines jungen Arbeitnehmers vier Wochen zum 15. oder zum Ende eines Monats betragen, obwohl er eine Dauer der Betriebszugehörigkeit (einschließlich Ausbildungszeiten) von mehr als zehn Jahren vorweisen kann.

Beispiel

Der Arbeitnehmer A ist am 15.09.1982 geboren. Er beginnt am 01.08.1998 seine Ausbildung und ist seitdem ununterbrochen bei diesem Arbeitgeber beschäftigt. Der Arbeitgeber kündigt das Arbeitsverhältnis mit Kündigungsschreiben vom 02.08.2009 aus verhaltensbedingten Gründen zum Ablauf des 31.08.2009. Zum Zeitpunkt der Kündigung hat das Arbeitsverhältnis noch keine zwei Jahre bestanden, da gemäß § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB bei der Berechnung der Beschäftigungsdauer Zeiten, die vor Vollendung des 25. Lebensjahres des Arbeitnehmers liegen, nicht berücksichtigt werden. (Beispiel nach Kolmhuber, Das neue Gleichbehandlungsgesetz für die Personalpraxis, S. 94)

Bei einem älteren Arbeitnehmer beträgt die Kündigungsfrist gemäß § 622 Abs. 2 Satz 1 BGB in einem solchen Fall vier Monate zum Monatsende. Die Kündigung wäre also erst zum Ablauf des 31.12.2009 möglich.

Kritik zur Verfassungsmäßigkeit des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB

Bis auf die Bundesregierung ist kaum jemand der Auffassung, die Vorschrift des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB sei mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 RL 2000/78/EG vereinbar, respektive gemäß Art. 6 RL 2000/78/EG gerechtfertigt.

Die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift wurde mit tragfähigen Argumenten bisher nicht in Frage gestellt. An die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen im Arbeitsrecht stellt die Verfassung offenbar wesentlich geringere Anforderungen als das europäische Recht. Die Vorschriften des AGG sind in diesem Zusammenhang unerheblich (BVerfG, Beschl. v. 18.11.2008 – 1 BvL4/08). Das AGG kommt als Prüfungsmaßstab für die Wirksamkeit des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB schlicht nicht in Betracht. Bei AGG und BGB handelt es sich um gleichrangige Normen. Dass mit dem AGG der – in weiten Teilen untaugliche – Versuch der Umsetzung von EG- Richtlinien beabsichtigt war, führt zu keiner anderen Wertung.

Die Ausgangsfrage ist also eigentlich falsch gestellt. Sei müsste lauten: Welche Rechtsfolgen sind an die Europarechtswidrigkeit der Vorschrift des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB geknüpft?

2. Rechtsfolgen der Europarechtswidrigkeit der Vorschrift

Die Frage nach der gegenwärtigen Geltung der Vorschrift des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB lässt sich kaum kontroverser beantworten, als es die Landesarbeitsgerichte derzeit tun. Gemeinsam ist allen Entscheidungen die Überzeugung der Gerichte, die Vorschrift verstoße gegen das europarechtliche Verbot der Altersdiskriminierung (RL 2000/78/EG).

  • Rechtsansicht zur uneingeschränkten Geltung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB
    Das LAG Rheinland-Pfalz geht im Urteil vom 31.07.2008 – 10 Sa 295/08 von der uneingeschränkten Geltung der Vorschrift aus: „§ 622 Abs. 2 Satz 2 BGB ist bei der Berechnung der maßgeblichen Kündigungsfrist von den nationalen Gerichten anzuwenden.“ (Amtlicher Leitsatz).

    Ausgangspunkt des LAG Rheinland-Pfalz ist die Tatsache, dass deutsche Gerichte verfassungsrechtlich verpflichtet sind, die geltenden Gesetzesnormen anzuwenden. Die Möglichkeit einer europarechtskonformen Auslegung der Vorschrift des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB verneint das Gericht. Angesichts der Entstehungsgeschichte, des Zwecks und des unmissverständlichen Wortlauts sei eine Auslegung contra legem nicht möglich.

  • Rechtsansicht zur Nichtanwendbarkeit des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB
    Andere Landesarbeitsgerichte vertreten gerade die gegenteilige Auffassung:
    „§ 622 Abs. 2 Satz 2 BGB ist bei der Berechnung der maßgeblichen Kündigungsfrist auch ohne Vorlage an den Europäischen Gerichtshof von den nationalen Gerichten nicht anzuwenden.“ (LAG Schleswig-Holstein, Urt. v. 28.05.2008 – 3 Sa 31/08; so auch LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 24.7.2007 - 7 Sa 561/07).

    Auch diese Gerichte verneinen ausdrücklich die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung.

    Tragender Grund für die Nichtanwendung geltenden Rechts ist hier die Qualifizierung des Verbots der Altersdiskriminierung als allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts entsprechend dem Urteil des EuGH vom 25.11.2005 - C 144/04 (Mangold/ Helm). Als Teil des primären Gemeinschaftsrechts komme dem Diskriminierungsverbot auch nach deutschem Verfassungsrecht zwingend Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht der Mitgliedsstaaten zu, d.h. im vorliegenden Fall vor § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB. Das Urteil beruht also auf der unreflektierten Übernahme der Behauptung der Mangold- Entscheidung, das Verbot der Altersdiskriminierung habe seinen Ursprung in den verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen und den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten. Tatsächlich kennen nur zwei – von 27 (!) – Verfassungen der Mitgliedstaaten der EG ein solches Verbot der Altersdiskriminierung. Woraus der allgemeine Grundsatz des Gemeinschaftsrechts abgeleitet wird, bleibt offen. Seine Existenz als „tragendes allgemeingültiges Rechtsgut“ wird als „zweifelsfrei“ schlicht unterstellt.

  • Vorabentscheidungsersuchen
    Eine Klärung der Rechtsprobleme versucht das LAG Düsseldorf im noch anhängigen Verfahren 12 Sa 1311/07 herbeizuführen. Es ist sowohl von der Europarechtswidrigkeit als auch der Unmöglichkeit der richtlinienkonformen Auslegung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB überzeugt. Gleichzeitig sind die deutschen Gerichte an Recht und Gesetz gebunden – entgegen einer gelegentlich anzutreffenden Auffassung auch die Arbeitsgerichte.

    Das LAG Düsseldorf hat deshalb mit Beschluss vom 21.11.2007 - 12 Sa 1311/07 dem EuGH im Wege der Vorabentscheidung nach Art. 234 EGV (Kücükdeveci, Rs. C-555/07) folgende Fragen vorgelegt:

    Verstößt eine nationale Gesetzesregelung, nach der sich die vom Arbeitgeber einzuhaltenden Kündigungsfristen mit zunehmender Dauer der Beschäftigung stufenweise verlängern, jedoch hierbei vor Vollendung des 25. Lebensjahres liegende Beschäftigungszeiten des Arbeitnehmers unberücksichtigt bleiben, gegen das gemeinschaftsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung, namentlich gegen Primärrecht der EG oder gegen die Richtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000?

    Kann ein Rechtfertigungsgrund dafür, dass der Arbeitgeber bei der Kündigung von jüngeren Arbeitnehmern nur eine Grundkündigungsfrist einzuhalten hat, darin gesehen werden, dass dem Arbeitgeber ein - durch längere Kündigungsfristen beeinträchtigtes - betriebliches Interesse an personalwirtschaftlicher Flexibilität zugestanden wird und jüngeren Arbeitnehmern nicht der (durch längere Kündigungsfristen den älteren Arbeitnehmern vermittelte) Bestands- und Dispositionsschutz zugestanden wird, z.B. weil ihnen im Hinblick auf ihr Alter und/oder geringere soziale, familiäre und private Verpflichtungen eine höhere berufliche und persönliche Flexibilität und Mobilität zugemutet wird?

    Wenn die Fragen verneint werden, möchte das LAG Düsseldorf wissen, ob das Gericht eines Mitgliedsstaats in einem Rechtsstreit unter Privaten die dem Gemeinschaftsrecht entgegenstehende nationale Gesetzesregelung unangewendet zu lassen hat oder dem Vertrauen Rechnung zu tragen hat, das in die Anwendung geltender innerstaatlicher Gesetze gesetzt wird und die Unanwendbarkeitsfolge somit erst nach Vorliegen einer Entscheidung des EuGH über die inkriminierte oder eine im wesentlichen ähnliche Regelung eintritt.“

Die Beantwortung dieser Fragen ist von grundsätzlicher Bedeutung über das Arbeitsrecht hinaus. Sie bietet Gelegenheit zur Klarstellung der in der Mangold-Entscheidung behaupteten Grundsätze, wird die Reichweite der Wirkung von EG- Richtlinien zwischen Privaten klarstellen und die Kompetenz des EuGH zur Rechtsfortbildung des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten näher bestimmen.

Hinweis

An dieser Stelle ist festzuhalten, dass die Wirksamkeit der Kündigung nicht von der Angabe des zutreffenden Beendigungszeitpunkts abhängt. Dies gilt für den Fall des Ausspruchs einer „fristgemäßen“ Kündigung oder einer ordentlichen Kündigung zum nächstmöglichen Termin ebenso wie für den Fall des Ausspruchs einer ordentlichen Kündigung zu einem bestimmten Termin. Auch die Betriebsratsanhörung wird nicht falsch, wenn die vom Arbeitgeber berechnete und angegebene Kündigungsfrist sich als fehlerhaft herausstellt.

Im Ergebnis führt die Benachteiligung jüngerer Arbeitnehmer durch die Vorschrift des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB also allenfalls zu einem späteren Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Falle der Wirksamkeit der Kündigung.

3.Welche Rechtsentwicklung ist zu erwarten?

Nunmehr liegen die Schlussanträge des Generalanwalts Bot im Fall Kücükdeveci, Rs. C-555/07 vom 07.07.2009 vor. Man gewinnt unwillkürlich den Eindruck, als würde der Zauberlehrling die Geister, die er mit der Mangold- Entscheidung rief, nicht mehr los.

  • Grundsatz der Altersdiskriminierung „untrennbar mit RL 2000/78 verbunden“
    Einschlägige Gemeinschaftsnorm für die Beantwortung der Vorlagefrage des LAG Düsseldorf ist nach Auffassung des Generalanwalts Bot die RL 2000/78/EG. So weit bewegt er sich auf dem Boden der Vor-Mangold-Dogmatik.

    Gleichzeitig kann er aber von der Altersdiskriminierung als allgemeinem Grundsatz des Gemeinschaftsrechts nicht lassen. Dieser sei „untrennbar mit der Richtlinie 2000/78 verbunden“ (Rdnr. 34). Der Zweck der RL 2000/78/EG soll nicht mehr der allgemeine Zweck einer Richtlinie sein, nämlich derjenige der Rechtsangleichung, wobei nach Art. 249 Abs. 3 EGV den innerstaatlichen Stellen der Mitgliedstaaten die Wahl der Form und der Mittel zur Erreichung des verbindlich durch die Richtlinie vorgegebenen Zwecks überlassen bleibt. Vielmehr diene jedenfalls die RL 2000/78/EG hauptsächlich dem Zweck, die Anwendung des Verbots der Altersdiskriminierung zu erleichtern.

    Ein völlig neuer Ansatz, der jedenfalls im EGV keine Grundlage hat. Mit dem Instrument der Richtlinie ist es den Organen der EG möglich, im Rahmen des Grundsatzes der Einzelermächtigung nach Art. 5 Abs. 1 EGV und unter Beachtung des Rechtssetzungsverfahrens, den Mitgliedstaaten die Umsetzung bestimmter Ziele vorzuschreiben. Die Richtlinie definiert selbst die Ziele, sie ist kein Instrument der Umsetzung bestehender Ziele.

  • § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB mit europäischem Recht nicht vereinbar
    Generalanwalt Bot teilt die Auffassung, die Vorschrift des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB sei mit europäischem Recht nicht vereinbar, weil sie nicht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG gerechtfertigt, jedenfalls aber nicht verhältnismäßig sei.

  • Konsequenzen der Unvereinbarkeit
    Die Schlüsselfrage nach den Konsequenzen der Unvereinbarkeit des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB mit der RL 2000/78/EG beantwortet der Generalanwalt wie folgt.

    Fehlende Drittwirkung der RL 2000/78/EG
    Ausgangspunkt ist die fehlende Drittwirkung der Richtlinie, die sich ausschließlich an die Mitgliedstaaten richtet. Selbst eine klare, genaue und unbedingte Richtlinienbestimmung kann im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Privatrechtssubjekten keine Anwendung finden.

    Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung
    Die Gerichte der Mitgliedstaaten sind aber aus dem Grundsatz der Vertragstreue des Art. 10 EGV und der Umsetzungspflicht des Art. 249 EGV zur richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet. Diese findet ihre Grenze im grundsätzlichen Verbot der Auslegung contra legem. Wenn und soweit dem Einzelnen durch die Nichtumsetzung Schäden entstehen, ist der Mitgliedstaat zum Schadenersatz verpflichtet. Bis hierhin beschreibt der Generalanwalt Bot die allgemeine Rechtsauffassung.

    Nichtanwendbarkeit von § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB
    Er möchte aber neben der richtlinienkonformen Auslegung und der Schadensersatzverpflichtung ein „drittes Korrektiv“ erfinden – dasjenige der „Abkoppelung“ der Möglichkeit der Berufung auf die Richtlinie von der horizontalen unmittelbaren Wirkung der Richtlinie. Im Ergebnis bedeutet dies, dass die Richtlinie zwar nicht unmittelbar anwendbares Recht in dem jeweiligen Mitgliedstaat ist und deshalb keine Rechte und Pflichten der Normunterworfenen begründen kann, entgegenstehendes nationales Recht aber unangewendet bleibt. Auf diese Unanwendbarkeit soll sich auch der Einzelne im Rechtsstreit vor dem nationalen Gericht berufen können. Das dritte Korrektiv ist aber ausdrücklich auf die Antidiskriminierungs-Richtlinien beschränkt. Deren Besonderheit läge darin, dass sie den Anwendungsbereich des primärrechtlichen Diskriminierungsverbots wegen des Alters als allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts nicht schmälern dürften.

    Jede andere Entscheidung würde einen Bruch mit der Logik darstellen, die der Mangold- Entscheidung zugrunde liegt.

Anmerkung des Autors

Die große Frage ist diejenige, ob der EuGH die Gelegenheit nutzt, seine Fehlentscheidung Mangold zu revidieren. Es gibt keinen primärrechtlichen und unmittelbar wirkenden allgemeinen Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung. Dieser kann auch nicht aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union abgeleitet werden. Dabei handelt es sich nicht um verbindliches Vertragsrecht.

Dagegen spricht die Tatsache, dass der EuGH in der weit überwiegenden Zahl der Fälle den Schlussanträgen der Generalanwälte folgt. Wir müssen uns also darauf vorbereiten, dass der EuGH zu dem Schluss kommt, die Vorschrift des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB sei von nationalen Gerichten unangewendet zu lassen.

Die Anwendung geltenden deutschen Rechts hinge damit in Zukunft von der Erfindung oder Interpretation allgemeiner Grundsätze durch den EuGH ab.

Quelle: Dr. Martin Kolmhuber, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln - Entscheidungsanmerkung vom 07.09.09