BGH berücksichtigt Naturalleistungen beim Ehegattenunterhalt - So wirkt es sich auf Ihre Berechnungen aus

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Von Teilen der Literatur wird diese neue Rechtsprechung zur Berücksichtigung der Naturalleistungen beim Ehegattenunterhalt (BGH v. 29.09.2021 - XII ZB 474/20, FamRZ 2021, 1965; BGH v. 18.05.2022 - XII ZB 325/20, FamRZ 2022, 1366 = NJW 2022, 2470 mit Anm. Obermann) scharf  kritisiert (Schwamb  FamRB  2022, 342; Schürmann FF  2022, 363, 365;  Götz/Seiler,  FamRZ 2022, 1338;  Duderstadt FamRZ 2022, 1338; Spangenberg, FamRB 2022, 369).

Dem BGH stimmen zu Gutdeutsch FamRZ 2022, 1757 und Borth FamRZ 2022, 1758; Soyka FuR 2022, 529; M. Schneider, FamRB 2022, 9, Soyka FuR 2022, 39 und Lies-Benachib FamRZ 2023, 09; vgl. auch Rubenbauer/Dose FamRZ 2022, 1497, 1506).

Von Götz/Seiler (FamRZ 2022, 1338) wird dem BGH ein Systemwechsel im Unterhaltsrecht vorgeworfen.

Es werde mit dieser Rechtsprechung § 1606 Abs.3 Satz 2 BGB praktisch abgeschafft. Nach dieser Norm erfüllt der Elternteil, der ein minderjähriges Kind betreut, seine Verpflichtung, zum Unterhalt des Kindes beizutragen, in der Regel durch die Pflege und die Erziehung des Kindes. Auf der Basis dieser Norm wurde angenommen, dass der vom anderen Elternteil geschuldete Barunterhalt den gesamten Lebensbedarf des Kindes abdeckt und Leistungen des Betreuenden, die den Barunterhaltsanspruch zudem unberührt lassen, als freiwillige Unterstützungsleistungen zu bewerten sind.

Von Schwamb (FamRB 2022, 342) wird die Frage gestellt, ob dies schon die oben dargestellte Neuberechnung auch des Ehegattenunterhalts mit generellem Abzug von „vermutetem“ Naturalunterhalt beim kinderbetreuenden Unterhaltsberechtigten als Konsequenz nach sich zieht (ebenso rechnen M. Schneider, FamRB 2022, 9 und Soyka FuR 2022, 39). Vom BGH sei dies noch nicht eindeutig entschieden, denn in dem zitierten Beschluss vom 29.9.2021 gehe es insoweit „nur“ um die Erfüllung eines auf beiderseitigem Einkommen beruhenden höheren Wohnbedarfs der Kinder (BGH v. 29.9.2021 - XII ZB 474/20, FamRZ 2021, 1965 Rz. 33, 34) und in der Entscheidung v. 18.5.2022 - XII ZB 325/20 (FamRZ 2022, 1366) gehe es „nur“ um die Quotenermittlung für Mehr- und Sonderbedarf der Kinder.

Durch diese geänderte Rechtsprechung werde das „Massengeschäft“ Unterhalt erneut komplizierter, wenn dem betreuenden Elternteil angeblich geleisteter restlicher Naturalunterhalt entgegen der Regelannahme in § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB gutgebracht werden solle, ohne dass etwas dazu vorgetragen werden müsse (Schwamb FamRB 2022, 342; vgl. auch Duderstadt FamRZ 2022, 1338; Spangenberg, FamRB 2022, 369).

Kritisch abzuwarten bleibe daher, ob sich dieser die gesetzliche Bestimmung des § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB aushebelnde Grundsatz dennoch auch beim Ehegattenunterhalt allgemein weiter durchsetze. Auch deshalb könnten die Ergebnisse nicht überzeugen, weil unterhaltsberechtigte Ehegatten mit geringem Eigeneinkommen davon wenig oder gar nicht profitieren würden, selbst wenn sie gelegentlich freiwillig etwas für die Kinder natural abknapsen. Auf der anderen Seite bekämen besserverdienende unterhaltsberechtigte Personen 45% eines angeblichen Naturalunterhalts, den sie weder schulden noch nachweisen müssen, über den Ehegattenunterhalt „zurück“. Genau genommen finanziere der Barunterhaltspflichtige damit höheren Kindesunterhalt über seine eigentlich gedeckelte Verpflichtung hinaus. Jedenfalls ohne Gesetzesänderung sei das nicht vermittelbar (Schwamb FamRB 2022, 342).

In seiner ebenfalls kritischen Entscheidungsanmerkung zum Beschluss des BGH v. 18.05.2022 – XII ZB 325/20 (FamRZ 2022, 1366) führt Schürmann (FF 2022, 363, 365) aus, das zur Begründung angeführte Argument, der Kindesbedarf steige, wenn beide Eltern Erwerbseinkommen erzielen, beruhe auf einer unzulässigen Verallgemeinerung. Was für den Familienbedarf gelten mag, passe noch längst nicht für jede Trennungsfamilie. Ein den notwendigen Mindestbedarf übersteigender Lebensbedarf des Kindes folge aus den ggf. wechselnden Lebensverhältnissen seiner Eltern. Folglich werde die hieraus abgeleitete Lebensstellung auch durch eine Trennung der Eltern nebst allen damit verbundenen persönlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen beeinflusst. Da für die Führung zweier Haushalte andere Maßstäbe gelten als für die Lebensverhältnisse in einem intakten Familienverband, habe die einfache Addition der beiderseitigen Einkommen keine hinreichende Aussagekraft, um den jeweiligen Kindesbedarf zu bestimmen.

Schürmann (FF 2022, 363, 365) stellt außerdem die Frage, um welche Art von Leistungen des betreuenden Elternteils es sich dabei gehandelt habe, ob diese aufgrund eines sich aus dem ungedeckten Bedarf folgenden Rechtsanspruchs zusätzlich erbracht werden müssen und ob sie in der angenommenen Höhe auch tatsächlich geleistet wurden. Dies sei bei begrenzten Mitteln keineswegs eine Selbstverständlichkeit, zumal der betreuende Elternteil für sich den angemessenen Eigenbedarf in Anspruch nehmen könne. Den „als Barunterhalt“ erbrachten Naturalunterhalt gebe es jedenfalls nicht kostenlos; da die zu seiner Erfüllung notwendigen sächlichen Mittel in der Regel zunächst käuflich zu erwerben seien. Erst der für den angemessenen Kindesunterhalt aufgrund einer Rechtspflicht aus dem eigenen Einkommen zusätzlich getragene Aufwand berechtige zu einer Anrechnung beim einzusetzenden Einkommen, während freigiebige Zuwendungen das Unterhaltsverhältnis unberührt lassen.

Es sei bemerkenswert, wie der BGH ohne weiteren Sachvortrag davon ausgehe, dass die Mutter den erhaltenen Barunterhalt nochmals um einen entsprechenden Anteil aufgestockt habe, während er ansonsten für jede anzuerkennende Belastung einen substantiierten Nachweis erwarte (vgl. BGH v. 22.5.2019-XII ZB 613/16, FamRZ 2019,1415). Der Kontrast zur Berücksichtigung eines während des Umgangs aufgebrachten Kindesbedarfs sei besonders auffällig. Ein Vater, bei dem sich das Kind mehr als 1/3 des Monats aufgehalten hatte, habe sich entgegengehalten lassen müssen, die von ihm getragenen Aufwendungen nicht hinreichend dargelegt zu haben (BGH, v. 12.3.2014 - XII ZB 234/13, FamRZ 2014, 917 m. Anm. Schürmann; BGH v. 5.11.2014 - XII ZB 599/13, FamRZ 2015, 236 m. Anm. Born), obwohl doch für diese Tage die Deckung des Kindesbedarfs aus dem Haushaltseinkommen in zumindest existenzsichernder Höhe evident sei (Schürmann FF 2022, 363, 365).

Duderstadt (FamRZ 2022, 1338) beklagt, der BGH habe den Praktikern in puncto Trennungsunterhalt ein arbeitsintensives, nicht begründetes und schwer begründbares Modell der Teilmonetarisierung des Naturalunterhalts beschert. Es sei halbherzig, führe vielfach nur zu geringfügigen Abweichungen gegenüber der alten Rechtsprechung und lasse sich mit dem Gleichwertungsgrundsatz (§ 1606 Abs. 3 S. 2 BGB) nicht in Einklang bringen.

Gutdeutsch (FamRZ 2022, 1757) verteidigt den BGH. Die Kritik berücksichtige nicht, dass der Gesetzeszweck von § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB nur die Entlastung des Betreuenden von einer Erwerbspflicht zur Deckung des kindlichen Barbedarfs war, nicht aber eine Beschränkung des kindlichen Bedarfs auf den nach dem Einkommen des Barunterhaltspflichtigen geschuldeten Unterhalt (vgl. auch Maaß, FamRZ 2019, 857; Lies-Benachib FamRZ 2023, 09).

Die angegriffene Rechtsprechung rüttele keinesfalls an der Struktur des § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB, sondern präzisiere vielmehr deren Verständnis in Bezug auf die dargelegten Sachverhalte (Borth FamRZ 2022, 1758). Ausgangspunkt der kritisierten Rechtsprechung des BGH sei der aus § 1610 Abs. 1 BGB folgende Rechtssatz, dass sich die Lebensstellung eines Kindes von den Einkommensverhältnissen seiner Eltern ableitet. Verfügen beide Elternteile über Einkünfte, die der Deckung des Bedarfs dienen, bestimmt sich dieser nach den zusammengerechneten Beträgen. Entsprechend erlangt das Kind einen höheren Lebensstandard als ein Kind, dessen Eltern ihren Lebensbedarf nur aus einer Einkommensquelle bestreiten können. Insoweit ist es für das Verständnis der Lebensstellung i.S.d. § 1610 Abs. 1 BGB auch unerheblich, ob die Eltern in einem Familienverband mit dem Kind oder getrennt leben, da sich durch eine Trennung der Eltern die die Bedarfssituation des Kindes nicht ändere.

Auch habe der BGH ausgeführt, dass zur Bestimmung der Barunterhaltspflicht gemäß der Düsseldorfer Tabelle nur das Einkommen des barunterhaltspflichtigen Elternteils herangezogen wird (vgl. BGH v. 16.09.2020 - XII ZB 499/19, FamRZ 2021, 28, BGH v. 11.01.2017 - XII ZB 565/15 - FamRZ 2017, 437; BGH v. 15.02.2017 - XII ZB 201/16 - FamRZ 2017, 711), der Sache nach also eine „abgekürzte Unterhaltsermittlung“ erfolgt (Borth FamRZ 2022, 1758).

Die Regelung in § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB, dass der betreuende Elternteil seine Unterhaltspflichten durch die Pflege und Erziehung des Kindes erfüllt, wirke sich als Beschränkung auf die tatsächliche Betreuung nur im Verhältnis der Elternteile zueinander aus. Die in dieser Vorschrift enthaltene Gleichstellung von Barunterhalt und Betreuungsleistungen solle (lediglich) eine Entlastung des betreuenden Elternteils von einer Erwerbspflicht bewirken, nicht aber die in § 1610 Abs. 1 BGB bestimmte Lebensstellung einschränken. Insbesondere lasse sich aus diesem Regelungszusammenhang nicht entnehmen, dass die Lebensstellung des Kindes in Bezug auf die Bedarfsverhältnisse durch die Regelung des § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB in normativer Hinsicht gemindert werden soll (Borth, FamRZ 2022, 1758; Lies-Benachib FamRZ 2023, 09).

Gegen die Kritik von Götz/Seiler (FamRZ 2022, 1338) verweist Borth (FamRZ 2022, 1758) darauf, die Rechtsgrundlage der Leistungen des betreuenden Elternteils (als Naturalunterhalt) liege in der in § 1610 Abs. 1, Abs. 2 BGB definierten Bestimmung des gesamten Lebensbedarfs des Kindes und - anders als im Fall der freiwilligen Leistung einer dritten Person - im aus dieser Vorschrift ein ableitbaren Rechtsanspruch des Kindes aufgrund der konkreten Einkommensverhältnisse. Das vom BGH entwickelte Rechenmodell stelle auch keine beliebige Bestimmung dieser Leistungen dar, sondern orientiere sich, was die Bedarfsbemessung angeht, an bekannten und anerkannten Berechnungen zum Wechselmodell. Auch die Regelvermutung des § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB sei nie in der Weise ausgelegt worden, dass jegliche Beteiligung des betreuenden Elternteils an einem geschuldeten Barunterhaltsanspruch ausgeschlossen wäre; dies folge schon aus der nicht strittigen Rechtsprechung des BGH zur anteiligen Aufteilung der von der Düsseldorfer Tabelle nicht erfassten Mehr- und Sonderbedarfe und sei  auch im Gesetz in § 1603 Abs. 2 Satz 3 BGB angelegt.

Obermann (NJW 2022, 2475) arbeitet heraus, dass der BGH mit seiner Entscheidung vom  18.05.2022 - XII ZB 325/20 (FamRZ 2022, 1366) lediglich einen im letzten Jahr (BGH v. 29.09.2021 - XII ZB 474/20, FamRZ 2021, 1965 = NJW 2022, 621) unscheinbar begonnenen Paradigmenwechsel im Kindesunterhalt fortsetzt. Die § 1606 Abs. 3 2 BGB zugrunde liegende Prämisse erfasst die wirtschaftliche Situation des Kindes nur in einer Einverdienerfamilie adäquat. Dieses Modell entspreche der sozialen Realität vieler Familien schon vor der Trennung nicht mehr (vgl. Lies-Benachib, FamRZ 2023, 09); nach der Reform des Ehegattenunterhalts sei sie nach einer Trennung wohl nur noch in Ausnahmefällen wirtschaftlich überhaupt möglich. Diese Diskrepanz hat zu Kritik an der gesetzlichen Regelung des Kindesunterhalts geführt (vgl. Obermann, NZFam 2017, 189, 191 mwN). Die vom BGH nunmehr vorgenommene Ausrichtung des Lebensbedarfs auch minderjähriger Kinder am gemeinsamen Einkommen beider Eltern entspreche der sozialen Realität besser.

In der Realität sei § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB auch im Binnenverhältnis zwischen Eltern seit Jahren statistisch betrachtet überholt. Das belege die erschreckend hohe Anzahl von Alleinerziehenden, die vom anderen Elternteil gar keinen Unterhalt für das gemeinsame Kind bekommen. In Deutschland seien im Jahr 2021 rund 18 % aller minderjährigen Kinder von Alleinerziehenden betreut worden. Studien gehen davon aus, dass nur 25 % der Kinder von Alleinerziehenden überhaupt den Mindestunterhalt bekommen. Die im Jahr 2017 erweiterte Berechtigung zum Bezug von Unterhaltsvorschüssen führe keineswegs dazu, dass die 800.000 Kinder, die diese Leistung beziehen, den Mindestunterhalt nach der Düsseldorfer Tabelle erhalten. Denn nach § 2 Abs. 2 S. 1 UVG ist beim Unterhaltsvorschuss das volle Kindergeld abzuziehen. Der betreuende, berufstätige Elternteil müsse daher mindestens in Höhe des hälftigen Kindergeldes den Teil des Unterhalts decken, der dem Kind infolge der fehlenden Leistungsfähigkeit des nicht betreuenden Elternteils entgeht. Da keine Unterhaltsvorschüsse fließen, wenn der betreuende Elternteil heiratet (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG), komme hier in Mangelfällen der betreuende Elternteil bei Ausfall des Schuldners für den gesamten Unterhalt auf (Lies-Benachib, FamRZ 2023, 09 mwN).

Es ergeben sich auch keine Widersprüche daraus, dass sich aus dem Teilhabeanspruch kein Zahlungsanspruch des Kindes gegen die Mutter ergibt. Eine Unterhaltspflicht ist nicht grundsätzlich in bar zu erfüllen, sondern nur dann, wenn in Ermangelung eines Bestimmungsrechts eine Unterhaltsrente geschuldet ist. Lebt ein Kind im Haushalt seiner Eltern, greift regelmäßig das – an sich als Ausnahme – konzipierte Recht, eine Bestimmung gemäß § 1612 Abs. 2 S. 1 BGB dahin zu treffen, dass diese statt der nach § 1612 Abs. 1 BGB geschuldeten Geldrente Naturalunterhalt aufbringen dürfen (Lies-Benachib, FamRZ 2023, 09 mwN; Ausführlich Viefhues, FuR 2018, 222.). So kann auch das volljährig gewordene Kind nicht aus dem Haushalt der Eltern ausziehen und Barunterhalt verlangen, vielmehr steht den Eltern das Recht nach § 1612 Abs. 2 S. 1 BGB zu, ihrer Unterhaltspflicht durch die Bereitstellung von Wohnraum und gefülltem Kühlschrank zu genügen (angeheine,MünchKomm,-BGB/Langeheine, 8. Aufl. 2020, § 1612 Rz. 36 ff.., Viefhues, in: jurisPK-BGB, 2022, § 1612 BGB Rn. 216 ff. mwN.

Auch der Einwand, der BGH unterstelle ohne weitergehende Überprüfung und damit zu Unrecht, dass der betreuende Elternteil einen Baraufwand zugunsten des Naturalunterhalts betreibe, gehe fehl. Er blende nämlich aus, dass derartige Vermutungen dem Unterhaltsrecht keineswegs fremd sind. Erhält etwa ein Vater für das in seinem Haus lebende gemeinsame Kind keinen Unterhalt von der geringer verdienenden Mutter, wird seine Kindesunterhaltsleistung selbstverständlich – und zwar in Höhe des aus seinem Einkommen zu ermittelnden Unterhaltsbetrages – bei der Berechnung des Ehegattenunterhalts für die Mutter in Abzug gebracht. Es bedürfe keines Nachweises dazu, dass die Unterhaltsbeträge tatsächlich aufgebracht werden (Lies-Benachib, FamRZ 2023, 09, 10  mwN).

Noch deutlicher werde dies in Unterhaltsrechtsverhältnissen, in denen eine neue Familie gegründet worden ist. Hier gelte der Vorwegabzug des aus dem eigenen Einkommen ermittelten Kindesunterhalts im Verhältnis zum Partnerunterhalt sogar dann, wenn ein zweiter Elternteil mit in diesem Haushalt lebt. Hat der unterhaltspflichtige Ehemann also mit seiner zweiten Frau weitere Kinder, werde bei der Berechnung des Unterhaltsanspruchs der ersten Ehefrau der für diese Kinder aufzubringende Unterhalt in der Höhe abgezogen, die sich aus seinem Einkommen ergibt.  Selbst wenn die zweite Ehefrau über höhere Einkünfte als dieser Mann verfügt, werde kein Unterhaltsanteil dieser Mutter ermittelt, der die Belastung des geschiedenen Ehemannes durch Kindesunterhalt schmälert. Vor diesem Hintergrund wäre es ein Bruch mit anerkannten Grundsätzen des Unterhaltsrechts gewesen, wenn der BGH der im Verfahren betroffenen Mutter die Nachweise dazu abverlangt hätte, dass sie Naturalunterhalt aufbringt (Lies-Benachib, FamRZ 2023, 09, 10  mwN).

Bewertung des Meinungsstreites

Aus Sicht der Praxis kann der auf der Lebenswirklichkeit beruhende gedankliche Ansatz nicht bezweifelt werden, dass sich der Lebensbedarf des minderjährigen Kindes in einer intakten Familie aus den wirtschaftlichen Verhältnissen beider Elternteile ergibt. Das Kind nutzt die ihm von den Eltern zur Verfügung stehenden Dinge (Nahrungsmittel, Kleidung, Wohnung, Urlausreisen, Freizeitaktivitäten usw.) ohne dass es darauf ankommt, welcher Elternteil dafür die Kosten übernommen hat. Erzielen beide Eltern Einkommen, ist der Bedarf des Kindes naturgemäß entsprechend höher als wenn nur ein Elternteil Einkommen erzielt.

Die entscheidende Frage ist, ob sich dies nach der Trennung der Eltern zum Nachteil des Kindes ändert, indem man ihm mit der Literaturmeinung jetzt nur noch einen deutlich geringeren Bedarf zuspricht, der sich allein am Einkommen des „Zahl-Elternteils“ orientiert oder ob der Bedarf als solcher weiterhin in gleicher Höhe fortbesteht. Diesen letzten Ansatz verfolgt der BGH.

In der Realität partizipiert das Kind auch in einem Alleinerzieher-Haushalt von den jeweils konkret vorhandenen Finanzmitteln des betreuenden Elternteils und lebt nicht nur vom gezahlten Unterhaltsbetrag des anderen Elternteils. Sein tatsächlich gedeckter Bedarf ist daher regelmäßig höher als der vom „Zahl-Elternteil“ geleistete Unterhaltsbetrag, und wird in der Realität teilweise vom betreuenden Elternteil gedeckt.

Deshalb ist die Kritik nicht zutreffend, die neue Rechtsprechung führe zu einem höheren Kindesbedarf, der im Haushalt des bisher allein betreuenden Elternteils zu decken wäre. Vielmehr geht der BGH zutreffend zugunsten des Kindes von dessen weiterhin in gleicher Höhe fortbestehendem Bedarf aus, der aber nur nicht vom Zahl-Elternteil vollständig gedeckt wird. Denn dessen Leistungsfähigkeit wird - so der BGH zutreffend - beschränkt auf den Betrag, den er nach seinem eigenen Einkommen als Unterhalt schuldet.

Praktische Auswirkung der neuen Rechtsprechung des BGH ist, dass sich der Ehegattenunterhaltsanspruch des betreuenden Elternteils erhöht, ohne dass dem unterhaltsberechtigten Kind dadurch etwas weggenommen wird. Damit wird weder ein Naturalunterhaltsanteil noch eine „Mithaftung des Betreuenden“ fingiert, sondern die Realität zur Kenntnis genommen, dass der betreuende Elternteil immer auch seinerseits - entsprechend seinen finanziellen Verhältnissen - einen eigenen Beitrag zum Naturalunterhalt des Kindes leistet. Die neue Rechtsprechung gleicht dies durch eine angemessene Verbesserung der Unterhaltssituation beim Ehegattenunterhalt aus.

Dr. Wolfram Viefhues

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